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Abgrund und Apokalypse. Szene aus dem Film „Unser täglich Brot“ (2005).

© Imago

Werkschau von Nikolaus Geyrhalter im Arsenal: Am Rand des Sichtbaren

Grenzgänger: Das Kino Arsenal widmet dem Dokumentarfilmer Nikolaus Geyrhalter eine Werkschau.

Seinen Debütfilm „Angeschwemmt“ (1994) drehte Nikolaus Geyrhalter als 22-jähriger Autodidakt über einen Donauabschnitt unweit seiner Geburtsstadt Wien. Sein jüngster Film „Über die Jahre“ (2015) ist eine Langzeitbeobachtung über den Niedergang der Textilindustrie in seiner Wahlheimat Niederösterreich. In den 20 Jahren, die dazwischenliegen, entfaltet sich ein filmisches Werk, das sich über alle Kontinente erstreckt und indigene Lebensformen ebenso präzise in den Blick nimmt wie die hochtechnisierte westliche Welt. Die acht Dokumentarfilme Geyrhalters, die seit 1994 entstanden sind, präsentiert das Berliner Kino Arsenal jetzt in einer Werkschau.

Seine Neugier und Entdeckerfreude kennt buchstäblich keine Grenzen. Am deutlichsten wird das in „Anderswo“ (2001). Ein Jahr lang hat Geyrhalter jeden Monat einen anderen entlegenen Flecken der Erde aufgesucht, das Leben der Bewohner dokumentiert und mit seinem langjährigen Cutter und Ko-Autor Wolfgang Widerhofer die zwölf Kapitel zu einem globalen Mosaik des frühen 21. Jahrhunderts montiert. Dabei geht es ihm nicht um spannende Geschichten oder ergreifende Einzelschicksale, sondern darum, Sachverhalte sichtbar zu machen, die sich der Betrachtung üblicherweise entziehen. Wenn er in „7915 KM“ (2008) die Rallye Paris–Dakar begleitet, richtet er die Kamera auf das, was im rasenden Rennzirkus keine Beachtung findet. Während ihm Menschen in Marokko oder Mali von ihrem Leben berichten, sind von den Fahrzeugen nur frische Spuren im Sand zu sehen.

Die Spuren, die vorangegangene Ereignisse in einer Landschaft und ihren Bewohnern hinterlassen haben, sind wiederkehrendes Thema in Geyrhalters Werk. Um sie geht es bereits im zweiten Film „Das Jahr nach Dayton“ (1997), in dem er das Leben in Bosnien nach dem Daytoner Friedensabkommen dokumentiert. „Was war das für ein Ungeheuer, das uns dazu gebracht hat, uns so entsetzlich zu streiten“, seufzt ein alter Schafhirte und erzählt von der Zeit vor dem Krieg, als nationale und religiöse Zugehörigkeiten keine Rolle spielten. Die Frage, wie man künftig wieder zusammenleben soll, treibt alle um. Zunächst aber sind die Menschen mit dem Überleben beschäftigt.

In Tschernobyl erzählen Menschen von einem idyllischen Vorher, zu dem kein Weg je zurückführt

Für „Pripyat“ (1999) besucht Geyrhalter die verstrahlte Sperrzone um Tschernobyl, in die seit der Nuklearkatastrophe wieder gespenstisches Leben eingekehrt ist, nicht nur in Form durch den Asphalt brechender Pflanzen. Obwohl man dort nichts essen oder trinken sollte, sind Menschen zurückgekehrt. Wie in Bosnien erzählen auch sie von einem idyllischen Vorher, zu dem kein Weg je zurückführt. Seine filmische Sprache hat Geyrhalter schon in diesen ersten Arbeiten gefunden. Stehende, sorgfältig komponierte Totalen wechseln mit Fahrten, bei denen er, der die Kamera stets selbst führt, hinter den Figuren herläuft oder sie auf ihren Fahrzeugen begleitet. Mit den Protagonisten führt er keine Gespräche, sondern lässt sie Monologe halten. Auf Großaufnahmen, Erzählerkommentare, Filmmusik verzichtet er konsequent. „Unser täglich Brot“ (2005), Geyrhalters bekanntester und zugleich formal strengster Film, macht deutlich, welche suggestive Kraft diese distanzierte Erzählweise entwickeln kann. Durch die langen unbewegten Einstellungen, in denen der Film Formen industrieller Lebensmittelproduktion erkundet, entwickeln die Szenen eine apokalyptische Abgründigkeit. Nicht nur beim massenhaften Schlachten von Schweinen und Impfen von Küken, sondern auch bei der Salaternte und dem Salzabbau. Zugleich schafft die Distanz Raum für Komik, etwa in der nüchternen Betrachtung der zahllosen grotesken Fahrzeuge und Maschinen, die zum Einsatz kommen.

Es ist es nicht ohne Pointe, dass Nikolaus Geyrhalter nach all diesen aufwendigen und ambitionierten Projekten ausgerechnet mit einer vergleichsweise wenig kühnen Dokumentation über die heimische Textilindustrie gescheitert ist. In seinen typischen Totalen blickt „Über die Jahre“ zu Beginn erbarmungslos auf Arbeiter an veralteten Maschinen in viel zu großen Fabrikhallen. Die Katastrophe, Konkurs, ist offensichtlich nicht mehr abzuwenden. Als Geyrhalter das nächste Mal kommt, ist die Fabrik tatsächlich geschlossen, aber eine Katastrophe scheint nicht eingetreten zu sein. Mit Elan widmen sich die ehemaligen Angestellten ihren Hobbys oder finden neue berufliche Herausforderungen. Davon, dass die Arbeit die Menschen formt, wie sich Geyrhalter anfangs von seinen Protagonisten bestätigten lässt, ist nichts zu sehen.

Die Größe des Filmemachers erweist sich hier darin, dass er die Thesen, auf die er es ursprünglich abgesehen haben mag, zugunsten der Persönlichkeiten seiner Protagonisten und der allgemeinen Unvorhersehbarkeit des Lebens zurückstellt. Im Laufe der Zeit entwickelt er zu jedem Gesprächspartner eine freundschaftliche Beziehung, und irgendwann handelt der Film mehr von diesen Beziehungen als von industrieller Abrüstung und Arbeitslosigkeit. Mit dem Abschluss dieses Zehnjahresprojekts hat das Arsenal einen guten Zeitpunkt gewählt, Zwischenbilanz zu ziehen. Und eine Gelegenheit zu bieten, die unverkennbare Handschrift dieses großen Dokumentaristen im Kino zu erleben, wo seine imposanten Bilder zweifellos hingehören.

Kino Arsenal, bis 20. Mai, am Sonntag (10. Mai) um 17 Uhr Werkstattgespräch mit Nikolaus Geyrhalter und Wolfgang Widerhofer

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