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Nasan Tur

© Doris Spiekermann-Klaas

Werkstattbesuch bei Nasan Tur: Tweets zu Holzschnitten

Er arbeitet zu Macht und der Spaltung von Gesellschaften. Konzeptkünstler Nasan Tur hat in einer ehemaligen Druckhalle in Tiergarten eine Live-Werkstatt eingerichtet.

Es gehört eine Portion Selbstbewusstsein dazu, sich öffentlich in nasser Hose zu zeigen, so wie Nasan Tur in der Ausstellung „Uncertain States“ in der Akademie der Künste. Auf seiner Jeans bildet sich im Schritt ein dunkles Pünktchen und wächst zu einem langen Fleck am Hosenbein. Auf lebensgroßem Flachbildschirm steht Tur derweil fast regungslos da: Konzentriert schaut er in die Kamera, sehr ernst das Gesicht mit dem kurzen, dunklen Vollbart. Er wolle seine Fragilität ausstellen, sagt er über sein gefilmtes Selbstporträt. Den Ausdruck „sich in die Hose machen“ hat er wörtlich genommen: Der Berliner Künstler thematisiert seine Angst.

Dabei wirkt Tur alles andere als bang. In der Galerie Blain/Southern, ansässig in der ehemaligen Tagesspiegel-Druckerei in Tiergarten, bewegt sich der 42-Jährige, als sei er zu Hause. Eine Schürze umgebunden, rückt er Farbdosen auf Arbeitstischen zurecht, dann kommt schon ein Fernsehteam zur Vorbesichtigung seiner Einzelschau. Tur grüßt die Eintretenden lachend mit Handschlag und führt sie durch die Halle. Zwischen hohen Metallregalen arbeitet er mit seinem Team zweimal in der Woche wie auf einer Bühne. Von Tisch zu Tisch gehend erläutert Tur, was sie da tun.

Alle Ausstellungen wirken, als kommentiere Tur das Jahr 2016

Aus einem Rechner drucken sie Sprüche aus, wie sie in sozialen Medien zu finden sind. Die Buchstaben zeichnen sie auf Platten aus Lindenholz, schnitzen sie aus, tragen schwarze Farbe auf und rollen schweres Papier darüber. „Empathy is naive“, Mitgefühl ist naiv, steht danach in schwarzen Buchstaben auf weißem Grund. Aus digital kursierenden Worten ist ein analoger Holzschnitt geworden, Druckkunst wie damals, als Bücher und Flugblätter die Aufklärung anstießen. Und wo stehen wir jetzt mit Web 2.0? „Es gibt immer Momente in der Geschichte, in denen Modernisierung zu einem Gefühl der Ohnmacht führte“, sagt Tur.

Vier Schauen gleichzeitig hat er aktuell, ein strammes Programm für den Vater zweier Kinder. Und alle Ausstellungen wirken, als kommentiere der Künstler das Jahr 2016 – Brexit, Clintons Niederlage, die Fake News im Internet, die „postfaktische“ Zeit. Doch Tur hat einfach weiter zu seinen Themen gearbeitet, zu Macht und der Spaltung von Gesellschaften. So präsentiert das Kunst Haus Wien seine Vergrößerungen von Fotos aus Presse und Netz: Weinende oder jubelnde Unterstützer von Politikern sind da zu sehen. Im Zoom wirken sie, als seien sie für Vernunft nie mehr zu erreichen.

Work in progress. Die Slogans werden erst in Lindenholz geschnitzt, dann gedruckt.
Work in progress. Die Slogans werden erst in Lindenholz geschnitzt, dann gedruckt.

© Doris Klaas-Spiekermann

Zu einem gefragten Künstler ist Tur auf fast gradlinigem Weg geworden. Dem Kunststudium in Offenbach folgte ein zweites an der renommierten Frankfurter Städelschule, dann der Umzug nach Berlin. Seine Soloschau 2008 bei Tanas, dem „Projektraum für türkische Kunst“ des Kurators René Block, brachte den Durchbruch. Auch wenn Tur damals großen Wert darauf legte, nicht als „türkischer Künstler“ zu gelten. Gebürtiger Offenbacher ist er.

In einer frühen Arbeit allerdings hat er die Herkunft seiner Eltern thematisiert: Er ließ sich einen dicken Schnurrbart stehen, wie ihn früher viele sogenannte Gastarbeiter trugen. „Für einen Teil der Gesellschaft in der Folge abgestempelt und ignoriert, wurde er von einem anderen Teil gerade aus diesem Grund akzeptiert“, schrieb René Block. Mit bekannten Istanbuler Künstlern teilt Tur die Vielfalt eines konzeptuellen Werks: Es reicht von Objekten unter Glas über Graffitiwände bis Performances. Und er hat schon oft in der Türkei ausgestellt. Von dort, berichtet er, erreichen ihn derzeit Mails von Künstlern, die sich nach Stipendien und Galerien in Deutschland erkundigen. Fortzugehen ist fünf Monate nach dem Putschversuch eine ernsthafte Option.

"Ist man verrückt, dass man humanitär denkt?"

Noch engagiert sich Tur vor allem für geflüchtete Künstler aus Syrien. Wie, erläutert er im November in der Akademie der Künste am Hanseatenweg in der Ausstellung „Uncertain States“ über Kunst in Kriegen und Krisen. So ernst wie auf seinem Selbstporträt nur wenige Meter weiter schaut Tur, als er von der Initiative „Flax“ berichtet. „Flax“, kurz für „Foreign Local Artistic Xchange“ soll geflüchteten Künstlern beim Berufsstart in Deutschland helfen. Die Gruppe präsentiert sich in der Ausstellung mit Schreibtischen, an denen sich an bestimmten Tagen Exilkünstler öffentlich beraten lassen, etwa über Kunsthochschulen, Stipendien, Ateliervergabe. Tur zählt zu den Gründern. „Zurzeit hat man den Eindruck, zu einer Minderheit zu gehören: Ist man verrückt, dass man humanitär denkt, dass man meint, Geflüchteten helfen zu sollen?“, sagt er später unter vier Augen. „Man muss sich an der Hand nehmen, sich organisieren.“

Mitarbeiterinnen von Nasan Tur in der Werkstatt.
Mitarbeiterinnen von Nasan Tur in der Werkstatt.

© Doris Spiekermann-Klaas

Bei „Flax“ geben Berliner Künstler und Kuratoren Workshops, wirken als Mentoren und arbeiten mit anderen Initiativen zusammen wie mit der Willkommensklasse der Kunsthochschule Weißensee, die von dem Künstler Ulf Aminde mitbetreut wird. „Wir haben als Individuen mit dieser Arbeit angefangen, uns gegenseitig die Bälle zugespielt“, erinnert der sich, dann seien Institutionen dazugekommen. „Flax“ arbeitet jetzt mit dem DAAD zusammen, dem Institut für Auslandsbeziehungen, dem Goethe-Institut.

Aquarelle für die Toten

Die Nachrichten setzen Nasan Tur trotzdem zu, vor allem wenn er im Netz von Raketeneinschlägen und gesunkenen Booten erfährt. Das habe ihn eine Zeit lang fast gelähmt. Um dagegen etwas zu tun, begann er Aquarelle zu malen: Ziffern auf Papier, unter denen mit dünnem Bleistift ein Ortsname und ein Datum stehen, Angaben zu Opfern von Kriegen und gescheiterten Fluchtversuchen. Ganz langsam habe er gemalt, sagt er, er wollte den Toten Zeit widmen. Das klingt nach Meditation, Totengebet – ist er religiös? Nein, sagt Tur, Religion interessiere ihn allein in ihrer Bedeutung für Gesellschaften und Politik.

In der Druckwerkstatt bei Blain/Southern sind nach den ersten 14 Tagen zwei neue Botschaften fertig geworden: „Power Is Fragile“ und „Living Is Resistance“ steht auf Blättern, die in den Regalen zum Trocknen hängen. Sinn oder Unsinn? Was Besucher darüber denken, erfahren die Mitarbeiter der Werkstatt kaum, wie sie sagen, gefragt werden sie vor allem zu Farbe, Holz und Drucktechnik. Nasan Tur selbst gibt an diesem Nachmittag Mitte Dezember keine Auskunft. Anders als angekündigt ist er heute daheim geblieben. Eine Pause musste bei seinem Programm wohl doch einmal sein.

Blain/Southern, Potsdamer Str. 77–87, bis 28. 1., Di–Sa 11–18 Uhr, offene Werkstatt Fr/Sa 14–17 Uhr; Akademie der Künste, Hanseatenweg 10, bis 15. 1., Mi–So 11–19 Uhr, Flax-Termine: 15. 12. und 5. 1., 15–18 Uhr

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