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Kultur: Wie Amy es sah

Dreifache Böden: Stefan Pucher inszeniert am Deutschen Theater „Tape“ von Stephen Belber

Das Stück heißt „Tape“, von einem gewissen Stephen Belber 1999 verfasst, und da unter Regie an diesem Abend in der Kammer des Deutschen Theaters ein gewisser Stefan Pucher geführt wird, denkt man natürlich sofort, dass auch dies wieder ein Musik- und Lifestyle- und melancholischer Interieur-Abend wird, für die Pucher bekannt ist. Gerade war während des Theatertreffens sein „Tod eines Handlungsreisenden“ aus Zürich zu Gast: eine 50er-Jahre-Einrichtungsorgie mit echtem Amischlitten und US-Diner auf der Bühne. Erst vor wenigen Monaten hatte Pucher an den Münchner Kammerspielen „Mjunik Disko“ herausgebracht, ein Abend zum Nachtleben mit Texten von Rainald Goetz und Thomas Meinecke.

Jetzt „Tape“. Welche Lieblingsmusik wohl zu hören sein wird? Aber es kommt anders. Denn „Tape“ ist kein Lebensgefühl- Drama, sondern ein grandioses Stück über die Frage, wo die Grenze zur sexuellen Gewalt verläuft und wie man mit den Folgen von etwas umgeht, das möglicherweise gar nicht stattgefunden hat (aber ungeheuerliche Konsequenzen nach sich zieht). Auf dem „Tape“ befindet sich nämlich keine Musik, sondern ein Geständnis, das der Feuerwehrmann und Gelegenheitsdealer Vince seinem Highschool- Kumpel Jon während eines Wiedersehens in einem Hotelzimmer entlockt und heimlich mitgeschnitten hat.

Jon gibt nach herumeierndem Leugnen, Rechtfertigen und Verharmlosen zu, vor zehn Jahren nach einer Party seine kurzzeitige Freundin Amy zum Sex gezwungen, also vergewaltigt zu haben. Um diese Tat ans Licht zu bringen, hat Vince das Treffen inszeniert. Und für später auch Amy dazugeladen. Die unerhörte Wendung des Stücks besteht darin, dass Amy sich weigert, die Opferrolle einzunehmen. Als Jon sich (von Vince genötigt!) bei ihr entschuldigt, behauptet sie, es habe keine Vergewaltigung gegeben – und lenkt damit die Aufmerksamkeit auf die Motive der verdutzten Männer.

Vince (der vor Jon mit Amy zusammen gewesen war, aber nie mit ihr schlafen durfte) wirft sie Rache an dem Freund vor – und Jon Verlogenheit: Ohne Vinces Inszenierung wäre er nie auf die Idee gekommen, sich bei ihr zu entschuldigen. In Wirklichkeit gehe es Jon (der gesellschaftskritische Doku-Filme dreht!), mal wieder darum, das letzte Wort zu haben.

Erwartungen ins Leere laufen zu lassen – das ist die Kunst von Stephen Belber. Denn der Zuschauer weiß längst nicht mehr, was er glauben soll. Möglicherweise hat sogar der selbstgefällige Jon recht, der nun behauptet, Amy sei „noch nicht bereit“, seine Entschuldigung anzunehmen, weil sie die Tat aus Schmerzvermeidung leugne. Da zieht Belber, beziehungsweise Amy, das zweite Ass aus dem Ärmel. Sie ruft die Polizei und erklärt schon am Telefon, dass sich in Zimmer 32 ein Vergewaltiger und ein Drogendealer aufhielten. Wie reagieren Vince und Jon? Wenn es dem einen wirklich um Ehrlichkeit und dem anderen um Anerkennung seiner Schuld ginge, müssten sich beide – unabhängig von dem, wie Amy die Sache sieht – auch verhaften lassen.

Es ist schlicht großartig, wie Belber mit Spiegelungen und dreifachen Böden arbeitet und eine Konfliktfacette nach der nächsten herauspräpariert – ohne dass jemals klar werden würde, was wirklich geschehen ist. Und Stefan Pucher gelingt es in einer über weite Strecken im besten Sinne konventionellen psychologischen Inszenierung, die drei Versionen des Geschehens wie gläserne Welten nebeneinander zu stellen, durchsichtig und geheimnisvoll.

Felix Goeser spielt Vince aufbrausend wie eine ständig kurz vor der Explosion stehenden Bombe. Mit der beschränkten Schläue des Empörten zieht er seinen Plan zwar gewieft durch und zaubert, um Jon gesprächig zu machen, erst Bier, dann Joints und schließlich Koks aus der Sporttasche. Er bleibt dabei aber doch das einfältige Kind, das von den wahren Motiven seines Handelns keinen Schimmer hat. Bernd Moss gibt Jon mit angemessen öliger Verkrampftheit. Erst großspurig und adrett, führt sein Körper wahre Verdrehungs- und Windungskunststücke auf, sobald es darum geht, mit der Sprache herauszurücken.

Nina Hoss ist Amy. Mit schwarzer Perücke stakst sie nichts ahnend und verlegen in dieses Treffen hinein und richtet sich, nachdem sie versteht, worum es hier geht, innerlich zu einer Art Desillusionierungsgöttin auf, die bei aller Gnadenlosigkeit auch (ein umso quälenderes) Verständnis für die anderen aufbringt und dadurch immer mehr zur ungreifbaren Projektionsfläche entrückt.

Dass Pucher auch hier und wie immer Videowände auffahren muss und – als wollte er noch ein Markenzeichen erfüllen – die Schauspieler schließlich dazu zwingt, als Band aufzutreten: Das steckt dieser kurze, dichte Abend locker weg.

Wieder am 25. Juni

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