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Wie ein Neuberliner die Stadt erleben kann: Akten anfordern

Der Neuberliner hat seine Eltern angebettelt, dass sie sich endlich ihre Stasi-Akte anschauen. Er war sich sicher, dass auch er in einer möglichen Stasi-Akte seiner Eltern vorkommen müsse, denn er war ein vorlautes Knäblein damals.

Der Neuberliner hat seine Eltern angebettelt, dass sie sich endlich ihre Stasi-Akte anschauen. Er war sich sicher, dass auch er in einer möglichen Stasi-Akte seiner Eltern vorkommen müsse, denn er war ein vorlautes Knäblein damals. Eine eigene Akte, das sah er ein, hatte er bestimmt nicht, denn er war noch nicht volljährig damals, und dass die Stasi spezielle Akten für Minderjährige angelegt hätte davon hatte er noch nie gehört. Die Nazis hatten das ja gemacht, aber doch nicht die Softnazis aus der DDR!

Wie kam es zu der Vermutung, dass seine Eltern eine Akte haben mussten? Schließlich waren sie allesamt Wessis. Das kam so: Sein Papa war Kapitalismuskritiker und entschiedener Anhänger des Dritten Weges. Die DDR war für ihn zwar nicht perfekt, aber eindeutig die bessere Gesellschaftsform. Übersiedeln wollte er aber doch nicht da wäre auch seine Gattin nicht mitgekommen, die die DDR für eine Veranstaltung von Softnazis hielt. Der Neuberliner war bis 1988 auf der Seite seines Vaters, hernach auf der Seite seiner Mama.

Sein Vater fuhr jedes Jahr zweimal nach Weimar, um die östlichen Shakespeare-Forscher zu treffen und seine Theorie von Literatur als Klassen- und Befreiungskampf zu unterbreiten. Der spätere Neuberliner kam immer mit. Bald tauchten Ost-Literaturwissenschaftler in der Heimat des späteren Neuberliners auf, und alle schrieben, wie sie höflich ankündigten, Berichte.

Vergangene Woche kam der Bescheid: Es gibt keine Akte. Nichts. Der Neuberliner, sein Vater und auch seine Mutter sind enorm enttäuscht.

Wo kein Richter ist, gibt es keine Anklage, das weiß jeder. Aber wo keine Akte ist, da gibt es kein Verzeihen! Aber der Neuberliner und seine Familie, das ist Tradition, haben allen Ost-Literaturwissenschaftlern bereits vollständig und für immer verziehen. Wie sollte es auch anders sein. Sie waren ja sicher im Westen, also in Abrahams Schoß. Marius Meller

Wenn Sie es noch nicht getan haben: Lesen Sie Ihre Stasiakte oder üben Sie sich im gegenstandslosen Verzeihen!

Marius Meller

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