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Die Gedankenwelt übertreten. Die deutsche Schriftstellerin Gila Lustiger, geboren 1963 in Frankfurt, lebt seit 1987 in Paris.

© Bogenberger/autorenfotos.com

Frankfurter Buchmesse: Wie eine deutsche Schriftstellerin sich in die französische Sprache verliebte

Ein Café in Paris, ein zerfleddertes Taschenbuch - der Beginn einer Leidenschaft: Gila Lustiger erinnert sich, wie Gustave Flaubert sie das Französische lieben lehrte. Ein Gastbeitrag.

Ich erinnere mich noch genau an den ersten französischen Satz, den ich las. Kurz vor den Sommerferien. Mit fünfzehn. Ich war mit meinen Frankfurter Freundinnen in den Stadtwald geradelt. Wir hatten an einer Lichtung gehalten und uns ins Gras gelegt. Und während sie den Proviant auspackten und eine karierte Wolldecke ausbreiteten, die irgendwie nach Hund roch, schlug ich das Buch voller Ungeduld auf. Ich glaube, ich habe ein Buch nie anders, immer nur mit dieser leichten Aufgeregtheit, dieser Anspannung, zu lesen begonnen. Jedenfalls kann ich mich nicht erinnern, ein Buch jemals anders als mit dieser Art von Taumel in die Hand genommen zu haben. Heute noch bin ich bei jedem Buch auf der Suche nach einem Satz, einer Beschreibung, einer Bemerkung, die es mir ermöglicht, die Grenzen meiner Wahrnehmung und meiner Gedankenwelt zu übertreten.

Ich sehe mich, wie ich den blauen Leinenband mit dem goldgeprägten Titel aus dem Rucksack hole, ihn aus dem Tuch packe, in das ich es gewickelt habe, sehe mich aus ich weiß nicht welchem Grund das Buch aufschlagen, während eine Freundin einer anderen ein Brot reicht. Noch am Abend hatte ich den Band aus der Bibliothek meines Vaters gezogen. In der Erinnerung verkriecht sich die Sonne genau in dem Augenblick hinter den Wolken, in dem Fürst Wassil in den Salon tritt. Er hat sich zurechtgemacht und trägt seine goldgestickte Uniform mit den Ordenssternen, seidene Strümpfe und Schnallenschuhe.

Der Handkuss des Prinzen

„Eh bien, prince, que vous disais-je?“, fragt Anna Pawlowna Scherer den Fürsten, der sein kahles, parfümiertes Haupt der hingereichten Hand entgegen neigt, um sie zu küssen. Ja, meine ersten französischen Sätze las ich in „Krieg und Frieden“. Der Roman beginnt im Salon dieser Hofdame, die ihre Gäste in der Umgangssprache des Adels begrüßt, eben in jenem gewählten Französisch, in dem, so der Erzähler, „unsere Großväter nicht nur redeten, sondern auch dachten.“

Liebe ich Tolstois Französisch? Auf jeden Fall liebe ich Tolstoi dafür, dass er nicht nur ein, zwei symbolische Sätze auf Französisch eingebaut hat, sondern fast die Hälfte der Dialoge der Anfangsszene seines Opus Magnum auf Französisch schreibt. Tolstoi ging es natürlich darum, die Umgangsformen der damaligen Zeit so getreu wie möglich widerzuspiegeln. Doch nur einer, dem die Idee der Reinheit der Sprache fremd ist, kann die Wirklichkeit so darstellen, wie sie nun einmal immer schon war und auch bleiben wird – kulturell durchwachsen.

Vielsprachigkeit als Lebenserfahrung

Dass es danach wieder kein französischer Autor war, bei dem ich Französisch aufschnappte, liegt nur daran, dass ich mir die Franzosen ausschließlich in der deutschen Übersetzung einverleibte. „Meinst du, dass er Mut genug hätte, de se perdre ou même de se laisser dépérir?“, fragt Joachim seinen Vetter Hans Castorp im „Zauberberg“. Worauf der gerade in den Schweizer Bergen Angekommene empört erwidert: „Was fängst du an, französisch zu sprechen?“

Ein paar hundert Seiten weiter jedoch erkundigt sich Castorp besorgt: „Hältst du uns Deutsche für pedantisch – nous autres allemands?“ Castorp hat sich mittlerweile nicht nur mit dem „Berghof-Sprachgemisch“, einem Kauderwelsch aus Deutsch, Französisch, Italienisch und Englisch, vertraut gemacht, sondern auch in Clawdia Chauchat verliebt, eine Russin mit rötlich-blondem Haar, das sie in Zöpfen um den Kopf gelegt trägt. Liebe ich Thomas Manns Französisch? Ich liebe es, wie er es benutzt, um sich ein klein wenig über seine Figuren, ihre Unbeholfenheit, ihren Dünkel zu mokieren. Dennoch ist der mehrsprachige Dialog nicht nur ein Kunstmittel. Vielsprachigkeit mit allen damit verbundenen Problemen gehören zu Manns Lebenserfahrung.

Ich müsste jetzt eigentlich auch über Marcel Prousts „Du Côté de chez Swann“ reden, über Stendhals „Le Rouge et le Noir“ und die „Chartreuse de Parme“, über Charles Baudelaire, Paul Verlaine und Arthur Rimbaud, über François Rabelais’ „Gargantua und Pantagruel“, Voltaires „Jacques, der Fatalist“ und die Verführung von Cécile de Volanges in den „Liaisons Dangereuses“ von Choderlos de Laclos und Molière, über Georges Perec, André Malraux, Samuel Beckett, Nathalie Sarraute, Robert Pinget, Claude Simon, Marguerite Duras...

Ich müsste über die französische Literatur reden, wollte ich meine Liebe zur französischen Sprache erklären, denn diese Sprache ist unlösbar mit der Literatur verwoben, die ich einige Jahre später als junge Studentin der Komperatistik entdeckte. In jedem Buch schwelgte ich. Vielleicht noch ein paar Worte zum ersten Buch, das ich mir bei Gilbert Joseph in Paris auf der Boulevard Saint-Michel kaufte, um mich mit dem zerfledderten Taschenbuch sogleich in ein Café voller chinesischer Touristen zu setzen, gegenüber eines spanisches Paars, das sich über einen vollen Brotkorb hermachte und vom Kellner noch ein cruasán-s'il -te-plaît erbat.

Die Erzählung „Un cœur simple“ beginnt so: „Pendant un demi-siècle, les bourgeoises de Pont-l'Evêque envièrent à Madame Aubain sa servante Félicité.“ Und dann: „Für hundert Francs im Jahr besorgte sie Küche und Haushalt, nähte, wusch, plättete, konnte ein Pferd anschirren, das Geflügel mästen, Butter machen, und blieb ihrer Herrin treu – die indessen keine angenehme Person war.“

Ein Blick der die Wirklichkeit bannt - und den Leser

Wie schaut dieser Schriftsteller denn, fragte ich mich. Wie konnte man überhaupt so schauen. Mit solch einem feinen Blick. Und wie konnte man alles so akribisch festhalten? Bis ins allerkleinste, unerheblichste Detail. Und wie schaffte man es, die Einzelheiten durch eine einfache Aneinanderreihung emotional so aufzuladen? Ja, wie ging das denn, dass dadurch ein Sittenbild entstand? Oh ja, die Sprache Gustave Flauberts hat mich die Literatur lieben gelernt. Und ich liebe seine Sprache. Ist das, was er schreibt, typisch französisch? Vielleicht. Doch nur einer, der schaut, bis es schmerzt, der sich nicht ablenken lässt, der alles registriert, nur einer, der das, was er sieht, auch aufzuzeichnen weiß, der es notiert, skizziert, diagnostiziert, datiert, katalogisiert.

Nur einer, der das, was er sieht, so lakonisch beschreibt wie er, der das zuvor Notierte verwirft und es neu formuliert, neu beleuchtet, nur einer, der ganze Seiten füllt, bis die Augen schmerzen und der Rücken schmerzt, nur so einer bannt die Wirklichkeit mit Sprache.

Gila Lustiger

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