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"Field of Mirrors", eine neue Kunstinstallation im Park.

© picture alliance/dpa/Ukrinform

36 Stunden, mehr als 33.000 Opfer: Wie Kiew mit der Erinnerung an das größte Massaker der Shoah ringt

Vor 80 Jahren erschossen die Deutschen mehr als 33.000 Juden in Babyn Yar. Kiew gedenkt der Opfer. Doch der Streit um das Memorial-Projekt und den künstlerischen Leiter Ilya Khrzhanovsky geht weiter.

Hier traut sich nicht mal der Teufel hin, sagt Wolodymyr Selenskyj, der Präsident der Ukraine. Es sei schwer zu atmen in Babyn Yar, so die ukrainische Bezeichnung für die einstige Schlucht am Stadtrand von Kiew, die heute ein Park ist, ein längst zugeschüttetes Tal mit Spazierwegen, Grünflächen und einem Spielplatz. Vor 80 Jahren fand hier der größte einzelne Massenmord des Holocaust statt: Am 29. und 30. September 1941 starben 33.771 Jüdinnen und Juden, erschossen nicht nur von SS-Männern, sondern auch von Wehrmachtssoldaten und Polizeieinheiten.

33.771 Tote in nur 36 Stunden. So jedenfalls lautet die Zahl im Bericht des Sondereinsatzkommandos. Es waren gewiss mehr, schon weil Kinder unter drei Jahren nicht mitgezählt wurden. Die Kinder, für die keine Maschinengewehrkugeln „verschwendet“ werden sollten, wurden lebendig in der Schlucht begraben, in den Armen der Mütter.

Daran erinnern während der Gedenkzeremonie am Mittwochabend mitten im Park neben Selenskyj auch Israels Staatspräsident Jitzchak Herzog und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Ein schwerer Gang, sagt der Ehrengast aus Deutschland im provisorischen Veranstaltungszelt, dessen transparente Plane über einen der Gedenkorte im Park gewölbt wurde: 1991 errichtete die Jüdische Gemeinde hier eine Menora, ein Mahnmal in Form eines siebenarmigen Leuchters.

Alle Redner an diesem langen Abend kommen auf die grausamen Einzelheiten des auch in Deutschland bis heute wenig bekannten „Holocaust durch Kugeln“ zu sprechen. Ein Drittel der Shoah-Opfer starb nicht in Konzentrationslagern, sondern durch die Massenerschießungen in Osteuropa während des Vernichtungsfeldzugs der Deutschen. Dieser Judenmord nahm in der Ukraine seinen Anfang. Babyn Yar blieb auch bei weitem nicht der einzige Ort. Vor seiner Ankunft in Kiew hatte Steinmeier deshalb Korjukiwka besucht, einen Ort nahe der belarussischen Grenze, in dem SS-Sondereinheiten im März 1943 die Bevölkerung vernichteten, 6.700 Männer, Frauen und Kinder.

Schmerzhafte Erinnerung. Das Festzelt in Kiew mit einer Menora.
Das provisorische Festzelt in Kiew mit dem Menora-Gedenkort. Auf der Bühne das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin bei der Probe.

© Anton Fedorov, The Gate Agency for BYHMC

Die drei Präsidenten suchen nach Worten. Sie rufen in Erinnerung, wie sich alle noch in der Stadt verbliebenen Juden an einem Sammelpunkt einfinden sollten - überwiegend Frauen, Kinder, Greise, denn viele Männer kämpften im Krieg. Wie sie fast alle kamen, weil sie glaubten, sie würden umgesiedelt. Wie sie sich an der Schlucht ausziehen, hinabsteigen und mit dem Gesicht nach unten auf die Erde legen mussten. So konnten die Mörder ihre Opfer übereinander stapeln, getrennt nur durch eine Sandschicht.

Im Jahr darauf begannen die Nazis, diese ersten Anfänge des systematischen Genozids so weit wie möglich zu vertuschen: Zwangsarbeiter aus dem eigens errichteten nahen KZ mussten die Leichen wieder ausgraben und verbrennen, sie wurden dann selber getötet. Steinmeier bittet um Vergebung für das monströse Verbrechen der Deutschen. Er verneigt sich in Trauer vor den Opfern, und er sagt etwas, das vielleicht wichtiger ist: Wie sehr es in zornig macht, dass in Deutschland, gerade in Deutschland, der Antisemitismus wieder stärker wird.

Bis 1943 wurden in Babyn Yar auch Roma und Sinti, Kriegsgefangene, Nationalisten, angebliche Partisanen und Behinderte ermordet – 100.000, wenn nicht sogar an die 200.000 Menschen. In der Sowjetzeit wurde dann der Mantel des Schweigens über Babyn Yar gelegt: das dritte Verbrechen, wie Jitzchak Herzog es nennt. Er spricht ein Totengebet für die Opfer. Ein Staudamm wurde gebaut; als der Damm brach, begrub er Vororte im Schlamm und forderte neue Todesopfer. Das erste, 1976 im Stil des sozialistischen Realismus errichtete Mahnmal würdigt die toten Sowjetbürger von Kiew. Dass es sich vor allem um Juden handelte, wird nicht erwähnt.

Erst mit der Unabhängigkeit der Ukraine 1991änderte sich das allmählich. Nach und nach entstanden im Park Gedenkorte für die Sinti und Roma, für Priester, Widerstandskämpfer, die ermordeten Kinder oder eine Dichterin. Opferkonkurrenz? Eher ein friedliches Nebeneinander, durchkreuzt von breiten Wegen, der „Allee der Aufrechten“ oder der „Allee der Märtyrer“.

Frank-Walter Steinmeier hält eine Rede zum Gedenken.
Frank-Walter Steinmeier ist als einer von drei Staatspräsidenten Gastredner bei der Zeremonie.

© Anton Fedorov, The Gate Agency for BYHMC

Es war der Poet Jewgeni Jewtuschenko, der in Chruschtschows Tauwetterperiode das Tabu zum ersten Mal brach und 1961 mit seinem Gedicht „Babij Yar“ für internationale Aufmerksamkeit sorgte – was der KPdSU gar nicht passte. Steinmeier zitiert aus den Versen, über das Schweigen, das schreit, über den Schrei ohne Stimme.

Begonnen hatte die Gedenkfeier denn auch mit der 13. Symphonie von Dmitri Schostakowitsch, der das Gedicht im ersten Satz vertont hat (und in den nächsten Sätzen vier weitere Jewtuschenko-Poeme). Aus Berlin ist das Deutsche Symphonie-Orchester angereist, am Pult steht Thomas Sanderling, der Schostakowitsch noch persönlich gekannt hat. Der Komponist, sagt der 79-jährige Dirigent am Rande der Proben, hat sich über jedweden Antisemitismus empört, Sanderling nennt Schostakowitsch einen glühenden Anti-Antisemiten. Die Moskauer Uraufführung 1962 war ein politischer Skandal.

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Die ehernen Stimmen des Kiewer Männerchors. Die Anrufungen des Bassbaritons Albert Dohmen. Peitschend Streicher-Salven, zittrige Tremoloketten, Kriechgänge der Angst, Schreie, Schockstarre, Sarkasmus, Satire. Schostakowitschs beredte Musik geht einem durch Mark und Bein. In ihrer Unmittelbarkeit ist die 13. Symphonie wie ein unbehauener Grabstein. Und zugleich ein zutiefst humanistisches Glaubensbekenntnis, das am Ende ein süßes Jenseits beschwört, die ergreifende Vision von Zärtlichkeit und Empathie, wenn Solo-Violine und Celesta im Pianissimo verklingen.

Dass nicht alle der ukrainischen Chormitglieder bereit waren, die Schlusszeile des Kopfsatzes zu intonieren, in der Jewtuschenko die Bekämpfung der Juden-Feinde zum Wesensmerkmal des „wahren Russen“ erklärt; dass deshalb zur Verstärkung eigens Sänger aus Slowenien anreisten, es ist vergessen in diesem Moment. Die völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Putin, die immer wieder aufflammenden bewaffneten Unruhen im Osten des Landes, wenigstens für diesen Moment ruht der heillose Konflikt zwischen der Ukraine und Russland.

Das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin spielt zu Beginn der Gedenkfeier Schostakowitschs 13. Symphonie "Babij Jar". Im Hintergrund laufen die Namen der Toten.
Das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin spielt zu Beginn der Gedenkfeier Schostakowitschs 13. Symphonie "Babij Jar". Im Hintergrund laufen die Namen der Toten.

© Anton Fedorov, The Gate Agency for BYHMC

Mitglieder des Kiev Municipal Chamber Choir bilden den Männerchor bei Schostakowitschs Symphonie.
Mitglieder des Kiev Municipal Chamber Choir bilden den Männerchor bei Schostakowitschs Symphonie.

© Anton Fedorov, The Gate Agency for BYHMC

Dabei hat die Musik es nicht leicht an diesem langen Abend. Auch später nicht, als der Cellist Mischa Maisky und Gidon Kremer mit der Kremerata Baltica Werke von Bach, Ernest Bloch oder Arvo Pärt spielen. Der Wind zerrt an der Zeltplane, die Lautsprecheranlage hallt, die Mobiltelefone plingen, Ehrengäste kommen und gehen, während der Musik, während der Reden. Es herrscht Unruhe bei der bald fünfstündigen Gedenkfeier, in deren Verlauf der jüdische Kantor Joseph Malovani in der neu errichteten symbolischen Synagoge gleich neben dem Zelt – ein Holzhaus in Form eines aufgeschlagenen Buchs – ein nächtliches Klagelied anstimmt. Malovani ist an dem Tag geboren, als das Massaker stattfand, an Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag. Und Marina Abramovic führt die Staatspräsidenten zur ebenfalls neuen „Crystal Wall of Crying“, einer Klagemauer mit eingelassenen Quarzkristallen, angebracht in der Höhe von Kopf, Herz und Bauch, wie die Performancekünstlerin sagt.

[Die Recherche zu diesem Artikel wurde vom Auswärtigen Amt unterstützt.]

Die Unruhe ist symptomatisch. Die neuen Gedenkorte im Park sind auf Initiative des „Babyn Yar Holocaust Memorial Center“ entstanden. Das Center richtet auch die Zeremonie aus. Deren wichtigste Vertreter sprechen im Anschluss an die Präsidenten, es folgt auch eine Video-Botschaft von US-Außenminister Atnony Blinken.

Um die 2016 gegründete, mittlerweile vor allem von den jüdisch-russischen und jüdisch-ukrainischen Oligarchen Mikhail Fridman, German Khan, Victor Pinchuk und Pavel Fuks finanzierte Stiftung gab es bereits mächtig Streit. Er hat sich bis heute nicht gelegt.

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Wo immer das Projekt zur Sprache kommt, liegt sofort Spannung in der Luft. Auch bei der Pressekonferenz mit sieben Aufsichtsratsmitgliedern wenige Stunden zuvor. Auf dem Podium sitzen unter anderem der oberste ukrainische Rabbiner Yakoov Bleich und der frühere Boxer Wladimir Klitschko, dessen Bruder Vitali nach den Maidan-Protesten Bürgermeister von Kiew wurde. Kritische Fragen nach den Kontroversen um das „russische Geld“, um die Kreml-Nähe einiger Aufsichtsratsmitglieder oder den offenen Brief von ukrainischen Intellektuellen, Historikern und Kulturschaffenden, die das Projekt lieber in öffentlicher Hand sähen, hören sie nicht gerne. Erst recht nicht, als es um jetzigen künstlerischen Leiter Ilya Khrzhanovsky geht, der 2018 in Berlin  mit seinem „Dau“-Projekt und später mit den auf der Berlinale uraufgeführten "Dau"-Filmen die Gemüter erregte. Der Ton wird häufiger scharf.

Die erste Projektleiterin Yana Barinova verließ das Center Ende 2019 mit Teilen ihres Teams, weil sie mit Khrzhanovskys Ideen nicht einverstanden war. Zuvor hatte sie dem Vorhaben einer sich endlich dem Grauen von Babyn Yar stellenden gemeinsamen ukrainischen Erinnerungskultur seinen Namen gegeben und den bürokratischen Weg dafür geebnet, dass auf dem weitläufigen Gelände neue Installationen und Museen errichtet werden können. Man verdanke ihr viel, betont Mikhail Fridman auf Nachfrage, leider sei eine Zusammenarbeit nicht möglich gewesen.

Die Künstlerin Marina Abramovic erläutert im Park von Babyn Yar ihre neue Installation "Crystal Wall of Crying".
Die Künstlerin Marina Abramovic erläutert im Park von Babyn Yar ihre neue Installation "Crystal Wall of Crying".

© REUTERS/Gleb Garanich

Warum keine staatliche Einrichtung, warum eine Privatinitiative? Die Herrenrunde nennt sich selbst eine NGO, spricht von Zivilgesellschaft, Philanthropie und politischer Unabhängigkeit, davon, dass sie der komplexen Wahrheit von Babyn Yar endlich zu ihrem Recht verhelfen will. Die persönliche Passion glaubt man ihnen sofort. Fast alle sind Juden, fast alle haben Verwandte im Holocaust verloren, werfen die eigene Biografie in die Waagschale. Auch Ron Lauder, der Präsident des Jüdischen Weltkongresses, gehört zum Aufsichtsrat. Die Rede ist von einem 100-Millionen-Dollar-Budget. Es gibt aber auch Historiker und namhafte ukrainische Geisteswissenschaftler, die kritisieren, dass das Center auf einem Massengrab errichtet werden soll, auf einem jüdischen Friedhof.

Der russische Dissident und Aufsichtsratsvorsitzende Nathan Scharansky weist die Vorwürfe zurück, mit Khrzhanovsky – den die einen für ein Genie halten, die anderen für einen Scharlatan – drohe das Memorial Center zum Holocaust-Disneyland zu werden. Erste Pläne eines Virtual-Reality-Experiments, bei dem die Besucher nach bestimmten Kriterien „Opfer“ oder „Täter“ spielen, seien sofort vom Tisch gewesen, so Scharansky.

Inzwischen vermitteln eine App als Audioguide durch den Park und eine mehrsprachige Webseite mit Multiple-Choice-Optionen einen Eindruck davon, was die Betreiber im Sinn haben. Auf babynyar.org werden die Nutzer über ein interaktives Diary mit Fragen der Moral konfrontiert. Wen kontaktiere ich, wenn ich verfolgt werde und mich verstecken muss? Meine Familie, die ich womöglich gefährde, oder Menschen, die mir weniger nahe stehen? Soll ein Künstler sein Werk verraten, um der Verfolgung zu entgehen? Je nach Antwort öffnen sich Fenster mit Opfer-Biografien und Informationen über in der Sowjetunion schikanierte Künstler.

Sie konkurrieren mit Netflix

In Kiew erläutern die Aufsichtsratsmitglieder, warum ihnen an solchen Formaten gelegen ist. Sie wollen in Babyn Yar kein konventionelles Holocaust-Museum, kein Haus mit Exponaten darin, sondern das Gedenken in die Zukunft tragen und die Aufmerksamkeit der jungen Generation erringen, denen die Shoah so fern liegt wie das Römische Reich. Wir konkurrieren weniger mit anderen Gedenkstätten als mit Netflix, sagt Mikhail Fridman.

Eine weitere Installation im nächtlichen Park,  mit Projektionen der Opfer-Porträts auf die Überreste der Schlucht.
Eine weitere Installation im nächtlichen Park, mit Projektionen der Opfer-Porträts auf die Überreste der Schlucht.

© Thomas Schmidt-Ott

Also immersive, multimediale, hochemotionale Besuchererfahrungen, und kein Horrortrip à la Disney? Khrzhanovsky selbst nimmt nicht an der Pressekonferenz teil, man hätte ihn gerne gefragt. Auch nach der Zusammenarbeit mit den Historikern im Wissenschaftlichen Beirat, die teilweise gerade erst ihre Arbeit aufnehmen. Wie bei „Dau“ wünschte man sich mehr Transparenz.

Am Abend bei der Zeremonie sitzt Khrzhanovsky im Publikum. Schon beeindruckend, in welchem Tempo das Memorial-Center-Team die aufwändige Gedenkfeier mit dem verspäteten Termin eine Woche nach dem 80. Jahrestag auf die Beine gestellt hat. Das DSO wurde erst vor einem Monat in Berlin angefragt, noch am Vortag wird im Park gezimmert und gepflanzt, werden Programmpunkte ergänzt. In etwa fünf Jahren soll das gesamte Areal fertig sein. Dann kann man sehen, ob es zusammen geht, das Trauma Babyn Yar und der Traum von der besten Holocaust-Gedenkstätte aller Zeiten.

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