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Kultur: „Wir erwarten noch mehr Probleme“

Der palästinensische Schriftsteller Mahmud Darwisch über den Rückzug der Israelis aus Gaza, die zukünftige Rolle der Ägypter und die Aufgabe des Dichters in unruhiger Zeit

Sehen Sie in der Ankündigung des israelischen Rückzugs aus dem Gazastreifen Ende 2005 einen Schritt in Richtung eines dauerhaften Friedens?

Nein. Der dauerhafte und gerechte Frieden erfordert den Rückzug aus allen 1967 besetzten Gebieten und eine umfassende Lösung. Gleichzeitig zur Ankündigung des Rückzugs wurde mit dem Bau einer Mauer begonnen, die nicht nur Israelis und Palästinenser trennt, sondern auch Palästinenser voneinander. Die Besetzung der Westbank wird gesichert. Wir befürchten, dass Scharon eine endgültige Grenze ziehen will. Daher begrüßen wir jeden Rückzug, ohne darin eine Lösung des Problems zu sehen.

Ägypten will nach dem Rückzug mit eigenen Sicherheitskräften im Gazastreifen für Ruhe sorgen. Würde Ägypten als Ordnungsmacht respektiert oder droht ein zweiter Libanon?

Ich glaube nicht, dass ein zweites Libanon entsteht. Die Palästinenser haben Vertrauen zu Ägypten, und ich denke, dass die Zusammenarbeit zwischen ägyptischen und palästinensischen Sicherheitskräften gut funktionieren wird. Wichtig ist, dass Israel die Rolle Ägyptens akzeptiert.

Sie sind 1993 aus Protest gegen die Friedensvereinbarungen von Oslo von Ihren Ämtern in der PLO zurückgetreten. Inzwischen leben sie wieder in Ramallah, was, so haben Sie gesagt, eine faktische Anerkennung der Verhältnisse sei. Wie stellen Sie sich die Zukunft im Nahen Osten vor?

1993 hatte ich Vorbehalte, die sich leider bestätigt haben. Es gab keine klare Verpflichtung der Israelis zum endgültigen Rückzug aus den besetzten Gebieten. Die Vereinbarung war nebulös. Heute befürchte ich, dass Scharon eine endgültige Lösung anstrebt. Er schreckt ja auch nicht davor zurück, uns nur 40 Prozent der Westbank zu übergeben. Starke internationale Kräfte müssen in den Konflikt eingreifen, weil sich Scharon und die USA einig sind. Die regionalen Kräfte im Nahen Osten sind unfähig, sich zu bewegen. Anstatt sich mit der Palästina-Frage zu beschäftigen, spricht man jetzt von einem „Neuen Nahen Osten“, von einer nebulösen Zukunft der Region. Die Interessen Amerikas im Irak haben Priorität für den Nahen Osten insgesamt. Dem palästinensischen Volk bleibt nur eine Alternative: Entweder es unterwirft sich, oder es begeht Selbstmord. Beides ist nicht akzeptabel, deshalb gibt es keine Perspektive. Wir erwarten noch mehr Probleme.

Ihre Gedichte haben Sie früh zu einer Legende werden lassen. Doch Sie haben sich immer dagegen gewehrt, als politisches Sprachrohr wahrgenommen zu werden. Welche Aufgabe haben Dichter und Intellektuelle in Palästina?

Die Aufgabe des Dichters ist es, schöne Gedichte zu schreiben. Damit trägt er zur kulturellen Identität des palästinensischen Volkes bei. Er muss dem Bild entsprechen, das sich das Volk von ihm macht – und sich davor hüten, zum politischen Redner zu werden. Er muss nahe liegende Begriffen meiden. Er sollte die Heimat in der Sprache beschreiben, ohne die Sprache zur Geographie zu verfestigen. Er sollte die Realität vor dem Mythos schützen, der Realität jedoch einen mythischen Anschein verleihen. Er muss das Leben der Palästinenser in seiner Schönheit darstellen: die Liebe zur Natur, zum Leben, zur Hoffnung. Ob ich das kann, weiß ich nicht.

Ihr Beharren auf der Autonomie der Dichtung kann man als Versuch sehen, das Individuum zu stärken. Kommt diese Individualisierung und Modernisierung der palästinensischen Gesellschaft voran?

Der Dichter hat eine persönliche Stimme. Bringt er sie dem Leser nahe, trifft sie sich mit dem du, wir, ihr. Jeder Palästinenser schreibt zugleich über die Situation seines Volkes. Am wichtigsten ist bei uns die Stimme der Gemeinschaft, doch die Entwicklung der Individualität stärkt die Unabhängigkeit. Es gibt aber einen gesellschaftlichen Konsens: Freiheit heißt Freiheit von ausländischer Besatzung. Dennoch muss das Individuum nach seiner eigenen Befreiung suchen, Kreativität ist eine individuelle Angelegenheit.

Das Gespräch führte Jörg Plath. Aus dem Arabischen übersetzte Gert Himmler.

Jedes palästinensische Kind kennt einige seiner Gedichte auswendig: Mahmud Darwisch ist eine lebende Legende. Er wurde 1941 geboren, und mit 14 Jahren, als er ein Gedicht bei einer Schulfeier vortrug, das erste Mal verhaftet. Darwisch lebte viele Jahre im Exil, u. a. in Kairo, Moskau, Beirut, Tunis und Paris, und bekleidete bis 1993 hohe Ämter in der PLO. 1998 lehnte er das Angebot von Palästinenserpräsident Arafat ab, Kulturminister im Kabinett der Autonomiebehörde zu werden. Er trug wesentlich zur pazifistischen Ausrichtung innerhalb der PLO bei. Seit 1996 wohnt Darwisch wieder in Ramallah und Amman. Er veröffentlichte bisher 28 Gedichtbände und drei Prosabände, die in 30 Sprachen übersetzt wurden. „Ein Land aus Worten“ (erschienen im Zürcher Ammann Verlag) ist der Titel seines letzten Gedichtbandes. Seit 1997 gibt Darwisch die Literaturzeitschrift „Al Karmel“ heraus. Tsp

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