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Kultur: Wir Kontoführer: Jedem das Seine: Zwiespältige Sprache entsteht aus der gespaltenen Erinnerung

Was ist Gerechtigkeit? Der Vorsitzende des Zentralrats der Juden hat, sein erstes Amtsjahr bilanzierend, die Feier einer Düsseldorfer Großbank erwähnt, bei der ein honoriger Anwalt vom Flakhelfereinsatz in Auschwitz erzählte: Wie er dort in die Sauna gegangen sei, vom Massenmord aber nichts bemerkte.

Was ist Gerechtigkeit? Der Vorsitzende des Zentralrats der Juden hat, sein erstes Amtsjahr bilanzierend, die Feier einer Düsseldorfer Großbank erwähnt, bei der ein honoriger Anwalt vom Flakhelfereinsatz in Auschwitz erzählte: Wie er dort in die Sauna gegangen sei, vom Massenmord aber nichts bemerkte. Paul Spiegel empört sich, dass keiner der Anwesenden diesem Bericht widersprach. Ist es gerecht, dass die einen mit furchtbaren Erinnerungen leben und andere das Furchtbare verdrängen? Erinnerung spaltet. Sie versteinert in Form von Mahnmalen, wird genährt von Dokumentationen, Ritualen. Doch selbst ihre offizielle Inszenierung mehr als 50 Jahre "danach" vermag den Riss nicht zu kaschieren, der "damals" das Volk in die einen und die anderen trennte. Den Riss nennen wir Zivilisationsbruch.

Auf antiken Traditionen beruht unsere, offenbar brüchige, Zivilisation. Schon die Griechen fragten, was Gerechtigkeit sei; mit der Formel suum cuique knüpfte Cicero an diese Vordenker an. Suum cuique = Jedem das Seine wurde ins römische Recht aufgenommen, vom Preußenkönig zum Motto erwählt - und als Begrüßungsschrift ins Tor des KZ Buchenwald eingelassen. Als 1999 Burger King in Erfurt mit "Jedem das Seine"-Flyern warb, gab es Proteste. Jetzt ist ein weiterer Versuch fehlgeschlagen, dieses Klassiker-Wort seiner Missbrauchshistorie zu entwinden. Prospekte der Münchner Merkur-Bank, die mit dem Zitat für interessante Kontoführungsmodelle warb, hatten in der Bankzentrale niemanden erregt. Die Filialen in Weimar und Jena jedoch - nahe Buchenwald - schlugen Alarm. "Keinen Zusammenhang mit dem KZ" sieht eine Sprecherin des 1959 von Zanwel und Motek Horowicz gegründeten Geldinstituts. Gewiss hätten selbst zukunftsorientierte Münchner PR-Spezis gezögert, die alte Formel "Arbeit macht frei" - anschaubar am Tor der nahen Gedenkstätte Dachau - zu vermarkten. Suum cuique jedoch klang so harmlos wie der (einst für KZ-Einweisungen gebrauchte) "Schutzhaft"-Begriff für jenen Cottbuser Polizisten, der dieser Tage einem bedrohten jüdischen Ehepaar "Schutzhaft" anbot. Ein Freudscher oder zynischer Versprecher: Sprache ist ein kollektives Erinnerungskonto, Einzahlungen darauf allerdings werden so unterschiedlich bilanziert wie die Empfindlichkeiten unterschiedlich Betroffener. Verantwortlich für dieses Konto zeichnen nicht nur Profirhetoriker, sondern alle, die oral history im Privaten weitergeben. Überwinden lässt sich die Spaltung auch dort nicht: Erinnerung bleibt ungerecht.

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