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Das Böse muss zurückgeschlagen werden. Vater Ady (Winston Duke) und seine pubertierende Tochter Zora (Shahadi Wright Joseph) wehren sich.

© Universal Pictures

„Wir“ von Jordan Peele: Monster sind immer die Anderen

Nacht der lebenden Doppelgänger: "Get Out"-Regisseur Jordan Peele gelingt mit „Wir“ ein meisterhafter Horrorthriller.

Von Andreas Busche

Der Vergnügungspark an der Promenade der kalifornischen Küstenstadt Santa Cruz hat es im Horrorfilm zu bescheidenem Ruhm gebracht. Mitte der Achtziger trieben hier in Joel Schumachers Brat-Pack-Klassiker „Lost Boys“ ein paar Vampire (angeführt von „Bad Boy“ Kiefer Sutherland) ihr Unwesen. Der Kultfilm hat in der Kinogeschichte kaum nachhaltigen Eindruck hinterlassen, dafür bei Regisseur Jordan Peele, der in „Wir“, zwei Jahre nach seinem Durchbruch mit „Get Out“, zu dieser uramerikanischen Freizeitattraktion zurückkehrt.

„Find Yourself“ steht über dem Eingang der Geisterbahn, in die sich die sechsjährige Adelaide verirrt. Was sie dann aber im Spiegelkabinett entdeckt, verschlägt ihr die Sprache: Vor ihr steht ein Mädchen, das genauso aussieht wie sie. Die Eltern finden ihr Kind stumm und traumatisiert wieder. Es ist das Jahr 1986. Die Nation bildet mit der landesweiten Benefizaktion „Hands across America“ eine Menschenkette gegen Hunger und Armut, während eine unterirdische Kolonie von Doppelgängern die Unterwanderung der Bevölkerung vorbereitet.

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Peele hätte nach seinem Drehbuch-Oscar für „Get Out“, der in den USA das 50-Fache seiner Kosten einspielte, alles drehen können, vom Superheldenfilm über „BlackKklansman“ (mit dem stattdessen Spike Lee einen Oscar gewann) bis zur Fortsetzung seiner Horrorsatire über den positiven Rassismus des liberalen Amerika. Er aber wollte mit kleinen unabhängigen Produktionen weiter die Grenze zwischen Horror und Sozialkomödie austesten. „Get Out“ hatte ähnlich wie „Black Panther“ einen vielschichtigen Referenzkatalog in der Popkultur verankert.

Dass der Komiker Peele mit seinem Kuriositätenkabinett rassistischer Stereotypen im Obama-Amerika ausgerechnet beim Horrorgenre landete, war nur folgerichtig. Doch das Spiel mit Horrormotiven ist mehr als ein Stilmittel. Wie ernst es ihm mit dem Genre ist, ließen schon die virtuosen Vignetten in „Get Out“ erkennen, in ihnen zeigte sich auch sein Background in der Sketch-Comedy (unter anderem als Obama-Imitator). Peele hatte seine Fans früh gewarnt, dass sie keine bloße Fortsetzung erwarten sollten.

Mit „Wir“ treibt er dem Horrorplot jegliche Subtilität aus, gleichzeitig ist seine soziale Symbolik mehrdeutiger, kryptischer. Schon der Originaltitel „Us“ markiert eine Ambivalenz. Er bezieht sich auf ein ominöses „Wir“ (gegenüber einem bedrohlichen „Anderen“) sowie auf die nicht minder identitätsstiftenden USA. Familie gegen Gesellschaft. Die Zombie-Apokalypse hat seit George Romeros Klassiker „Die Nacht der lebenden Toten“ (1968) nichts von ihrer politischen Brisanz verloren.

Schwarze Mittelklassefamilie wird mit bösen Selbst konfrontiert

30 Jahre nach dem Vorfall in der Geisterbahn kehrt Ady (Lupita Nyong’o) mit ihrer Familie – ihrem kindsköpfigen Mann Gabe (Winston Duke, wie Nyong’o mit Marvel-Wakanda-Ruhm), der pubertierenden Tochter Zora (Shahadi Wright Joseph) und dem jüngeren Sohn Jason (Evan Alex) – in das Ferienhaus der Eltern zurück. Eine normale schwarze Mittelklassefamilie, die eines Nachts mit ihrem bösen Selbst konfrontiert wird.

Vier Doppelgänger in roten Overalls und bewaffnet mit Scheren – sie nennen sich „Schatten“ – dringen gewaltsam in das Haus ein. Ihr Besuch erweist sich als tödlicher Plan: Sie wollen die Plätze ihrer Originale einnehmen. „Wer seid ihr?“, fragt Zora geschockt. „Wir sind Amerikaner“, entgegnet das leicht derangierte Ebenbild ihrer Mutter mit schwer asthmatischer Stimme.

Der Satz klingt noch nach, als „Wir“ längst in den Survival-Modus geschaltet hat. Es gibt im Film zwei zentrale Handlungsorte, die selbst wie Spiegelbilder funktionieren: das Ferienhaus von Adys Familie und das vollcomputerisierte Luxusdomizil (Alexa hört hier auf den Namen Ophelia) der befreundeten Myers mit ihren zwei Teenager-Töchtern – großartig als neureiches Arschlochpärchen: Elisabeth Moss and Tim Heidecker.

Verschlungene Verschränkung von Horrormotiven und sozialer Symbolik

Als sich die Hölle schließlich auftut, beweist Peele erneut seine Kompetenz als Horror-Auteur. Er beherrscht das blutige Gemetzel ebenso wie das perfekte Timing altmodischer jump scares, inklusive kathartischer Pointen: Mitten im Massaker in der Myers-Villa wechselt Ophelia die Spotify-Playlist von „Good Vibrations“ zu „Fuck the Police“. Mike Gioulakis stand schon bei David Robert Mitchells minimalistischem Coming-of-Age-Horrorfilm „It Follows“ hinter der Kamera, auch in „Wir“ verzichtet er auf Gimmicks.

Verschlungener ist da schon der Subtext von Peeles Film, der Horrormotive und soziale Symbolik eher nebeneinanderstellt, statt sie aufeinander zu beziehen. Diese zwingende Wechselwirkung war der eigentliche Clou von „Get Out“: dass sich der amerikanische Rassismus im Prinzip nur als Horrorfilm erzählen lässt. Hautfarbe spielt in „Wir“ keine Rolle mehr – abgesehen von der Tatsache, dass das final girl diesmal eine Afroamerikanerin ist. Stellt sich nur die Frage: Original oder Doppelgängerin?

Vielleicht der erste wirkliche Post-racial-Horrorfilm

Das Doppelgängermotiv und die Idee einer Parallelgesellschaft, die in einem Tunnelsystem lebt und sich ihre gesellschaftliche Teilhabe mit Gewalt erstreiten muss, besitzen eine Vielzahl an historischen und Genrevorbildern: von der Metapher der „Underground Railroad“, einem geheimen Netzwerk im 19. Jahrhundert, das Sklaven die Flucht in den Norden ermöglichte, über W. E. B. Du Bois’ Theorie der „Double Consciousness“, nach der jeder Schwarze in Amerika mit einer schizophrenen Identität zwischen Selbstbild und Fremdwahrnehmung leben muss, bis zu den Morlocks in H. G. Wells Roman „Die Zeitmaschine“.

Peele zieht in „Wir“, anders als mit „Get Out“, die Konfliktlinien nicht mehr entlang von Hautfarbe und ethnischer Herkunft, sondern sozialer Privilegien. Auch Romeros Zombies waren keine blutrünstigen Monster, sie verkörperten Ende der 60er ein neues Lumpenproletariat. Diese Metapher ist im Amerika unter Donald Trump, in dem die ökonomische Umverteilung von unten nach oben so schamlos wie nie zuvor praktiziert wird, wieder vielfältig anschlussfähig: Niemand muss sich von Peeles Endzeitszenario ausgeschlossen fühlen. Insofern könnte man „Wir“ als ersten wirklichen Post-racial-Horrorfilm bezeichnen. Beruhigend ist daran allerdings nichts.

In 22 Berliner Kinos. OmU: International, Odeon; OV: Alhambra, Neukölln Arcaden, CineStar, Delphi Lux, Rollberg

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