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Kultur: Wo die Seele sitzt

Michael Thalheimers Operndebüt mit Janaceks „Katja Kabanova“ an der Berliner Staatsoper

Die Frau sitzt. In ihrem grüngeblümten Kleid, auf einem harten, starrlehnigen weißen Stuhl sitzt sie schon ganz zu Anfang vorn an der Rampe und wird diesen Platz bis zum Ende kaum verlassen – neunzig Minuten und drei Akte, ihr ganzes Opernleben lang. Es ist das einfachste aller Bilder, das Michael Thalheimer gewählt hat, um die Seelenqual der depressiven russischen Kaufmannsfrau Katja Kabanova zu fokussieren. Wer sitzt, ist wehrlos, verkrampft sich im Zwang, Haltung bewahren zu müssen, und wer zu viel sitzt, der kann irgendwann nicht mehr richtig gehen.

Es sind solche einfachen Lösungen, aus denen sich die Inszenierungen des Michael Thalheimer entwickeln, die „Emilia Galotti“ und jüngst der „Faust“ am Deutschen Theater Berlin und jetzt sein Operndebüt, Leos Janaceks „Katja“ an der Berliner Lindenoper. Thalheimer ist der Meister des Weglassens, der konzentrierten Reduktion. Der Stuhl, eine schräg ins Bühnenportal eingepasste Wand, ein Kugelmond im Hintergrund, mehr braucht, will er gar nicht, um diese Oper zu erzählen. Denn die Seele sieht man nicht durch Butzenscheiben.

Einiges Geplänkel hatte es im Vorfeld gegeben, an welchem Berliner Haus der intensiv umworbene 39-jährige Thalheimer seine erste Oper inszenieren würde: Zuerst hatte die Deutsche Oper für Debussys „Pelléas“ den Zuschlag bekommen, dann, nach dem Abgang des Intendanten Udo Zimmermann, sagte Thalheimer dort ab und ließ sich von der Lindenoper ködern. Herausgekommen ist dabei jedoch der richtige Start am richtigen Haus. Denn erstens kommt die kleinere Lindenoper der ganz auf die Darsteller gerichteten Ästhetik des Schauspielregisseurs weit eher entgegen als das weiträumige, Distanz schaffende Haus an der Bismarckstraße, und zweitens lässt sich kaum eine Thalheimer-gerechtere Oper denken als eben Janaceks „Katja“: Als Janacek sich 1919 das damals recht populäre Drama des Russen Alexander Ostrowski vornahm, verknappte er den mäandernden Handlungsverlauf ganz nach Methode Thalheimer auf knappe anderthalb Stunden und foussierte es auf die ins Katastrophische mündende Depression der Titelheldin.

Ein Weg, den Thalheimer nun noch einen Schritt weitergegangen ist: Man trägt die bühnenüblichen Retro-Klamotten im Volksbühnen-Stil (Kostüme: Michaela Barth), die Blümchentapete an der Wand (Bühne: Olaf Altmann) würde für jedes x-beliebige-Stück taugen. Doch das sind bloß Indizien, dass es Thalheimer eben nicht auf ein äußeres plausibles Setting ankommt. Auf der Strecke geblieben sind bei ihm nicht nur der ganze russische Provinzmief des 19. Jahrhunderts, sondern auch die Naturpanoramen der Wolgalandschaft, die urwüchsige allgewaltige Natur, mit der Janacek immer wieder die Enge der Kleinbürgertristesse kontrastiert. Wenn die lebensmüde Katja sich am Ende dieser Natur hingibt und in die Wolga springt, lässt Thalheimer schlicht den Orchestergraben hochfahren und seine Heldin in den Fluten des Melos ertrinken.

Und mehr noch: Auf der Strecke geblieben sind eigentlich auch alle übrigen Figuren dieser Oper. Das Gezeter von Katjas tyrannischer Schwiegermutter (Ute Trekel-Burkhard), die Vorhaltungen ihres Ehemanns Tichon (Burkhard Fritz gibt dieser normalerweise als Jammerlappen gezeichneten Figur eine durchaus plausible Härte), ja auch die schwärmerischen Schwüre von Katjas Liebhaber Boris (Stephan Rügamer) – all das erscheint wie gebrochen durch die Wahrnehmung dieser einen, auf ihrem Stuhl festgebannten, sich dort vor lauter Lebensangst festklammernden Frau.

Diese radikale Verengung der Perspektive trifft sich freilich ausgezeichnet mit der Musik. Einfühlende Seelentiefe, gesteht auch Janacek nur Katja selbst zu. Die übrigen verharren mehr oder weniger im Typisierten, teils durchaus sympathisch mit ausschwingender Volksliedmelodik gezeichnet wie das junge Liebespaar Varvara (wie gut, den sinnlichen Mezzo von Katherina Kammerloher einmal ohne die Überforderungen des Strauss-Fachs zu hören) und Kudrjasch (Pavol Breslik singt den gescheiten Lehrer wie ein junger Gott), teils mutwillig mit burschikoser Rhythmik verzerrt wie Kabanicha und ihr lüsterner Galan Dikoj (Jaco Huijpen). Viel mehr als Reflexionen auf dem offen zu Tage liegenden Seelenspiegel der Titelheldin sind all diese Erscheinungen nicht, und Thalheimer verzichtet konsequenterweise auch darauf, sie zur Erklärung von Katjas Seelennot einzuspannen.

Dieses Leid, so legen es Musik wie Inszenierung nahe, ist viel zu tief verwurzelt, als dass es sich durch einen simplen „Wechsel des Geschicks“ im Sinne einer Operndramaturgie des 19. Jahrhunderts auflösen ließe. Diese Katja leidet nicht an ihrer Umgebung, sie leidet an sich selbst: Am Unvermögen, zu leben, aufzustehen und einfach wegzugehen. Allein die paar schwankenden Schritte, die sie hin und wieder wagt, zeigen zur Genüge, dass sie, anders als ihre Freundin Varvara, es nie schaffen würde, ihren Lebensumständen aus eigener Energie den Rücken zu kehren. Was bleibt, sind allein die Träume in ätherischen Sopranregionen, die freilich durch immer brutalere rhythmische Eruptionen des Orchesters zerstört werden.

Ungefährlich ist diese Reduktion allerdings nicht. Durch den Verzicht auf alle Bedingtheiten der Handlung, auf das Geflecht von Wenn und Aber, das Zustände und Entwicklungen erklärt, setzt die Inszenierung sozusagen alles auf eine Karte: Dieser Abend steht und fällt mit der Katja, die diese Partie nicht nur singen, sondern auch bis in die Nervenenden hinein verkörpern muss. Doch mit Melanie Diener hat die Staatsoper eine solche Katja. Stimmlich lässt sich diese Rolle sicher dramatischer, gesünder besetzen – trotz ihrer Erfahrung als Bayreuth-Elsa ist Diener im Kern eine lyrische Sopranistin geblieben. Doch es ist gerade die Fragilität ihres Soprans, die noch aus dem Mozartfach mit herübergenommenen schimmernden Bögen, die in ihrer völligen Resignation anrührenden, ganz nach innen gerichteten pianissimo-Töne des dritten Aktes, mit denen Melanie Diener sich ihre Katja zu Eigen macht.

Wenn diese Katja ihre Angst vor der Versuchung beschreibt, hat das nichts Besessenes, man hört die zaghafte Stimme einer Frau, die Angst vor sich selbst hat – und davor, sich ihrer eigenen Gefühle bewusst zu werden. Und es ist, wie in der Stimme auch in Diners Spiel gerade das Tastende, das Gefangensein in sich selbst, das fesselt: die kleinen und kleinsten Bewegungen, mit denen sie sich nach Zuneigung streckt wie eine Pflanze nach der Sonne, die kaum wahrnehmbaren Verkrampfungen und Entspannungen, mit denen sie seismografisch auf ihre Umwelt reagiert.

Ein großer Abend kommt so zu Stande, der sogar ein ganz großer hätte werden können, wenn ein Dirigent am Pult gestanden hätte, der die Unausweichlichkeit von Janaceks Schicksalsmusik in glühende, bohrende, schreiende, in jedem Fall unerbittliche Klänge umgesetzt hätte. Doch der 35-jährige Julien Salemcour, seit dreieinhalb Jahren Assistent Barenboims, kann die Einspringerchance, die sich ihm nach der Absage Michael Gielens geboten hatte, nicht nutzen. Die Koordination zwischen den Sängern und der stellenweise etwas schlampig spielenden Staatskapelle kriegt er zwar einigermaßen hin, Klangfarben und rhythmische Impulse dagegen nicht.

Alles darf man eben doch nicht weglassen.

Wieder am 27. und 30.1. sowie am 3., 6., und 9. sowie am 11.2.

Jörg Königsdorf

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