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Szene aus "American Gods",Odin (Ian McShane) guckt im Hintergrund zu.

© Amazon Prime

Wotan & Co.: Morgendämmerung der Götter

Warum die nordischen Mythen nicht den Rechten gehören und was man aus ihnen lernen kann: Der englische Autor Neil Gaiman zeigt es. Jetzt läuft sein Roman „American Gods“ als TV-Serie.

Kaum jemand kennt sie noch, die altnordischen Göttersagen. Rechtsextremisten können sie deshalb seit Jahren für sich vereinnahmen. Doch nie war die Zeit so günstig, sie wieder zu entdecken. Denn was wäre, wenn Odin, der Allvater, der höchste und älteste aller Götter, der Grimnir genannt wird und Langhut und Wotan, was wäre, wenn er, vergessen von den Menschen, sein Dasein als Mr. Wednesday (die Bezeichnung kommt von Wodanstag) irgendwo in Amerika fristen müsste? Als alter Mann, der mit der modernen Welt einfach nicht mehr mithalten kann und deshalb fast in Tränen ausbricht und nervös wird, sobald er mit Kreditkarte bezahlen soll. So hat ihn der britische Autor Neil Gaiman 2001 in seinem Erfolgsroman „American Gods“ beschrieben, der nun als Fernsehserie verfilmt worden ist, Anfang Mai ist die erste Staffel bei Amazon Prime gestartet.

Natürlich tut Odin nur so, schließlich ist er gerissen, er, der für die Weisheit ein Auge gab, der unerkannt von Ort zu Ort zieht, als großer Mann mit Mantel und Schlapphut. Am Ende hat er die Kassiererin so ausgetrickst, dass er gar nicht bezahlen muss. Und er hat eine Mission: Er versammelt alle alten Götter, die wie er im modernen Amerika vor sich hin darben, einst von Immigranten und Sklaven auf den Kontinent mitgebracht, und stiftet sie zu einem Krieg an. Einem Krieg gegen die neuen Götter. Gegen die „Götter der Kreditkarten und der Schnellstraßen, des Internets und des Telefons, des Radios und der Krankenhäuser und des Fernsehens“, wie Odin sie in einer flammenden Rede nennt, die „Götter des Plastik und der Piepser und des Neon. Stolze Götter – fette, törichte Kreaturen, ganz aufgebläht von ihrer eigenen Neuheit und Wichtigkeit“.

Dass Gaiman den alten Göttern ausgerechnet mit einem Roman zu neuem Ruhm verholfen hat, der ein Abgesang auf sie ist – das passt zu diesem Comic- und Fantasy-Autor, der stets mühelos die Grenze zwischen Tragik und Komik passiert. Aber wie konnte es kommen, dass nur noch wenige die nordischen Sagen und Mythen kennen? Warum kennt kaum einer Odin, Thor, Loki, Freyja, Balder oder Hel, wenn es vielen doch nicht schwer fällt, die olympischen Götter zu benennen?

Edda: ein extrem hermetischer Text

Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns zunächst die Quellen ansehen. Viele sind es nicht: Von den mündlich tradierten Mythen der nordeuropäischen Völker erzählen im Wesentlichen nur zwei Texte: die Lieder- und die Prosa-Edda. Verfasst in Alt-Isländisch im 13. Jahrhundert, also zu einer Zeit, in der Island bereits christianisiert war.

„Das sind beides extrem hermetische, schwer zugängliche Texte“, sagt der Literaturwissenschaftler Niels Penke von der Universität Siegen. Er beschäftigt sich seit Jahren mit populären Adaptionen der nordischen Mythen. „Diese Götter und Heldenlieder sind unglaublich komplizierte Lyrik. Im Original kann das, außer in Island, kaum ein Mensch lesen, selbst in Übersetzungen ist das alles andere als leicht zugänglich.“

Um die alten Mythen dem Normalbürger zu erschließen, braucht es also Nacherzählungen. Nur wie sehen die aus, die wir haben? Als man die nordische Sagenwelt im 19. Jahrhundert wiederentdeckte, bot sie Germanisten wegen ihrer Rätselhaftigkeit eine ideale Projektionsfläche für ihr Konzept der Germanistik als national-deutscher Wissenschaft. Die „Deutsche Mythologie“ von Jacob Grimm zum Beispiel oder die Edda-Übertragungen durch Karl Simrock „stilisierten die nordische Überlieferung zum ureigenen kulturell-geistigen Erbe des deutschen Volkes“, schreibt Georg Schuppener in seinem neuen Buch „Sprache und germanischer Mythos im Rechtsextremismus“ (Edition Hamouda).

Der Germanistikprofessor an der tschechischen Universität Ústí nad Labem erforscht den Zugriff der rechten Szene auf die nordische Mythologie. Im 19.Jahrhundert sei die Rezeption der nordischen Mythen noch nicht eindeutig rechts orientiert gewesen, so Schuppener, „wurde dann aber mehr und mehr politisch eindeutig rechts vereinnahmt“. Schließlich versuchten die Nationalsozialisten, eine Verbindung zwischen dem Germanentum und dem zeitgenössischen Deutschland herzustellen und damit eine Überlegenheit der „arischen“ Rasse zu beweisen. Nach 1945 war die altnordische Sagenwelt deshalb für das Bildungsbürgertum – von den Opern Richard Wagners abgesehen – tabu.

Wissenschaftler stehen unter rechtem Verdacht

Szene aus "American Gods",Odin (Ian McShane) guckt im Hintergrund zu.
Szene aus "American Gods",Odin (Ian McShane) guckt im Hintergrund zu.

© Amazon Prime

Die nordischen Mythen sind aus den Schullehrplänen verschwunden, einen Lehrstuhl oder eine Professur für germanische Mythologie gibt es in Deutschland nicht. Der Bonner Alt-Germanist Rudolf Simek, unter anderem Autor des „Lexikons der germanischen Mythologie“, erfüllt noch am ehesten diese Rolle. Aber so sehr die Germanistik ihre Vergangenheit aufgearbeitet hat, diejenigen, die sich wissenschaftlich mit der Thematik auseinandersetzen, stehen bisweilen immer noch unter dem Verdacht, sie kämen aus der rechten Ecke.

Als Georg Schuppener vor Jahren in einer Bibliothek in Sachsen einen Vortrag halten wollte, bei dem es auch um die Mythen der Germanen gehen sollte, fragte die Bibliotheksleitung vor der Veranstaltung besorgt beim Verfassungsschutz nach, ob es sich bei ihm um einen Rechtsextremisten handele. Er klagt deshalb darüber, dass es Neonazis gelungen sei, das Thema für sich zu vereinnahmen. Dabei greifen sie sich nur jene Elemente heraus, die ihnen für ihre Ideologie in den Kram passen, wie zum Beispiel die Gewalt und das Heldentum. Schuppener glaubt, dass diesem Missbrauch der rechten Szene nur Einhalt geboten werden kann, wenn die alten Mythen wieder Teil des Bildungskanons werden.

Ja, sie haben bessere Zeiten gesehen, die nordischen Götter, das hat Neil Gaiman ganz richtig erkannt. Niels Penke ist dennoch optimistisch, dass sich das Blatt wendet. Er beobachtet, dass das Interesse für die nordischen Mythen, gerade unter jungen Leuten, seit Jahren steige und das läge vor allem an den populären Adaptionen.

Seit J.R.R. Tolkien, Anglistik-Professor und Experte für nordische Mythen und Sprachen, in den 50er Jahren mit seinem Roman „Der Herr der Ringe“ das Fantasy-Genre quasi begründete und einen ganzen Kosmos schuf, der von den alten Mythen inspiriert ist, sind die Motive der nordischen Mythologie aus der Fantasy nicht mehr wegzudenken. Hier blühen sie wieder auf – jenseits der rechten Ecke und befreit vom Ballast der Geschichte. Allerdings sind die Adaptionen oft so frei, dass nur derjenige sie überhaupt erkennt, der von den nordischen Mythen schon weiß.

Es gibt so viele Mythen auf der Welt wie Küchen

Auch Neil Gaiman, Stammgast auf den Bestseller-Listen, der die alten Sagen in seinem Werk auf so vielfältige Weise variiert, hat sich fast 30 Jahre lang nicht an eine Nacherzählung gewagt, die bei dem bleibt, was wir überliefert haben. Nun aber, pünktlich zum Serienstart von „American Gods“, ist ihm das Kunststück gelungen: „Nordische Mythen und Sagen“ heißt der gerade im Eichborn Verlag erschienene, nur 250 Seiten dicke Band, der die Lücke zwischen wissenschaftlicher Edda-Forschung und popkultureller Adaption ausfüllen kann.

In der Einleitung schreibt er, es sei genauso schwer, sich unter den Mythen dieser Welt zu entscheiden wie unter ihren Küchen. Als Comicautor braucht er ohnehin nicht viele Worte, um seine Figuren zu umreißen. Und so schafft er es, sich an den Kern der Sagen zu halten, ohne auf seinen typischen Humor zu verzichten: Als Thor, „Gott des Donners, Mächtigster aller Asen, Tapferster und Stärkster in jeder Schlacht“ morgens noch halb verschlafen merkt, dass sein geliebter Hammer Mjöllnir verschwunden ist, macht er das, was er bei Gaiman immer macht, wenn etwas schiefgeht: „Als Erstes fragte er sich, ob Loki dahintersteckte. Dieser Gedanke kam ihm auch jetzt. Doch er glaubte, dass nicht einmal Loki es gewagt hätte, seinen Hammer zu stehlen. Also tat er, was er stets als Zweites tat, wenn etwas schiefging: er machte sich auf, um sich Lokis Rat zu holen.“

Ein nicht besonders heller Thor ist das, der ohne seinen – durch ein Missgeschick des Schmieds auch noch zu kurz geratenen – Hammer keinen Rat weiß, eine Reminiszenz an den amerikanischen Comickünstler Jack Kirby und seinen „The Mighty Thor“ aus den 60er Jahren, der momentan durch die Hollywood-Verfilmungen ein Revival erlebt.

Niemals waren die alten Götter so nahbar wie bei Gaiman. Aber so witzig das zunächst wirkt, er erfasst zugleich die Traurigkeit, die aus der Weisheit der Mythen erwächst: Wer immer nur auf das Recht des Stärkeren pocht, wer nur auf rohe Gewalt setzt, und sei er auch ein Gott, auf den wartet am Ende der Untergang. Es gibt kein Entrinnen vor Ragnarök, dem schicksalhaften Kampf der Götter und der Riesen, die dabei Gericht über die Menschen halten. Auch davon erzählen die alten Geschichten.

Von Elena Gorgis

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