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Kultur: Wunder in Buenos Aires

Die argentinische Wirtschaft liegt darnieder, das Land steht am ökonomischen Abgrund. Da grenzt es fast an ein Wunder, wenn am Rio de la Plata ein neues Museum eingeweiht wird, das Museo de Arte Latinoamericano de Buenos Aires, kurz "Malba" genannt.

Die argentinische Wirtschaft liegt darnieder, das Land steht am ökonomischen Abgrund. Da grenzt es fast an ein Wunder, wenn am Rio de la Plata ein neues Museum eingeweiht wird, das Museo de Arte Latinoamericano de Buenos Aires, kurz "Malba" genannt. Begründer des Museums für Lateinamerikanische Kunst ist der argentinische Unternehmer und Millionär Eduardo F. Costantini, der seit 1970 systematisch Kunstwerke des Kontinents erworben hat. Eine Auswahl seiner 228 Stücke umfassenden Sammlung war schon 1996 zu sehen, nun bildet sie als Stiftung den Grundstock des "Malba".

Der Museumsbau ging aus einem Wettbewerb innerhalb der Architektur-Biennale 1997 in Buenos Aires hervor. Die international besetzte Jury (darunter Kenneth Frampton, Norman Foster, Joseph Kleihues, Enric Miralles) vergab den 1. Preis an das Büro von Gastón Atelman, Martín Fourcade und Alfredo Tapia aus Córdoba, der zweitgrößten Stadt des Landes. Sie errichteten das dreistöckige Gebäude in einem eleganten innerstädtischen Viertel mit vielen Grünanlagen und weiteren Museen in der Nähe. Alle Räume gruppieren sich um eine große lichte Eingangshalle. Im Untergeschoss liegen Cafeteria, Auditorium, Museumsshop und Bibliothek. Über Rolltreppen oder einen gläsernen Aufzug sind die beiden oberen Etagen erreichbar. Für die ständige Sammlung sowie für Wechselausstellungen stehen jeweils zwei große und kleine Säle mit indirekter Tagesbeleuchtung zur Verfügung, ergänzt um zwei Skulpturenterrassen.

"Malba" bildet auch für Lateinamerika eine Besonderheit, da es als erstes Museum über Ländergrenzen hinweg den gesamten Kontinent als Sammlungsgegenstand einbezieht. Man beginnt um 1900, als die Kunst sich von Europa abzulösen begann und autonom wurde. Gründungsdirektor Agustín Arteaga, ein erfahrener Museumsmann aus Mexiko, will die lange Zeit vernachlässigte Kunst Lateinamerikas nun in die globale Kunstszene einfügen.

Die Künstler der Sammlung stammen vor allem aus Argentinien und Uruguay, aber auch aus Brasilien, Chile, Costa Rica, Ecuador, Kolumbien, Kuba, Mexiko und Venezuela. Sie repräsentieren die supranationale Entwicklung einer "anderen Moderne", die zwar noch auf europäischen Einflüssen beruht. Aber Geschichte und Mythen Lateinamerikas, seine Landschaften und Lebensbedingungen sowie Traditionen aus präkolumbianischer und Volkskunst verleihen ihr in Farbe und Form, in Material und Struktur ein eigenes multikulturelles Gepräge.

Am Beginn stehen Namen wie Rafael Barradas, José Cúneo, Emilio Pettoruti und Diego Rivera, die aus Fauvismus, Futurismus und Kubismus zu einer für sie spezifischen Synthese fanden. Ein besonderes Kapitel bildet Joaquín Torres-García. Der aus Montevideo stammende Künstler, der lange in Spanien und Frankreich lebte und Mitbegründer von Cercle et Carré war, formte aus den rational-utopischen Kunstkonzepten europäischen Ursprungs seinen auch theoretisch begründeten "konstruktiven Universalismus". Seit den zwanziger und dreißiger Jahren spielen sozialkritische Themen eine große Rolle, beispielhaft im Werk der Mexikaner David Alfaro Siqueiros und José Clemente Orozco, die vor allem als Wandmaler bekannt wurden. In Argentinien nahm sich Antonio Berni bis in die siebziger Jahre mit eindrucksvollen Bildcollagen der gesellschaftlich Unterdrückten an.

Magisch-realistische und surreale Tendenzen finden in Lateinamerika immer einen guten Nährboden. Internationales Renommée besitzen Maler wie Wifredo Lam, Roberto Matta und die zur Kultfigur erkorene Frida Kahlo. Aber auch andere Künstler haben eigenwillige Bildwelten hervorgebracht wie der dem Schriftsteller Jorge Luis Borges verbundene argentinische Maler Alejandro Xul Solar oder die nach Mexiko emigrierte katalanische Malerin Remedios Varo. Ein Schlüsselwerk ist das Bild "Abaporu" der Brasilianerin Tarsila Do Amaral, die im Zeichen eines intellektuellen Kannibalismus tropische Exotik und Moderne kreuzt. Die geometrisch-konstruktive Tradition findet in bildnerisch-skulpturalen Arbeiten von Carmelo Arden Quin, Sergio Camargo und Enio Iommi ein breites Wirkungsfeld bis hin zu den sozialen Plastiken von Lygia Clark und Hélio Oiticica.

Über unterschiedliche Erscheinungen einer neuen Figuration bei Fernando Botero, Antonio Seguí oder León Ferrari (seine auf den Vietnamkrieg gemünzte Objektplastik eines gekreuzigten Christus auf Bomberflugzeug ist plötzlich auf unheimliche Weise aktuell), führt der Weg in die bisher nur angedeutete Gegenwart mit Werken von Guillermo Kuitca und Francisco Toledo. Hier wird es in Zukunft noch manche Lücken zu füllen geben, obwohl das Museum eigentlich schon jetzt zu klein ist. Für 2002 sind Sonderausstellungen zu US-Popartisten Roy Lichtenstein, dem lange in Deutschland lebenden jüdisch-litauischen Maler Lasar Segall, der vor 1933 nach Brasilien ins Exil ging, sowie dem mexikanischen Künstlerpaar Diego Rivera und Frida Kahlo geplant.

Michael Nungesser

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