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Kultur: Wundertüten

Noch immer geistert der 1998 erschienene Theoriebestseller „Relational Aesthetics“ von Nicolas Bourriaud durch die Kunstwelt. Kunst, so behauptet der französische Kulturwissenschaftler, sei heute nur eine Erweiterung des gesellschaftlichen Raums.

Noch immer geistert der 1998 erschienene Theoriebestseller „Relational Aesthetics“ von Nicolas Bourriaud durch die Kunstwelt. Kunst, so behauptet der französische Kulturwissenschaftler, sei heute nur eine Erweiterung des gesellschaftlichen Raums. Nachgehen kann man dieser These in der Galerie Rekord , wo heute die letzte Ausstellung mit Malerei von Matthias Kanter eröffnet (Brunnenstraße 162; 18 Uhr; bis 29. Dezember . Rekord-Manager Martin Mertens wird anschließend unter eigenem Namen eine neue Galerie gründen) . Um sein ästhetisches Programm zu verdeutlichen, zitiert Kanter den Architekten Peter Zumthor, der jedes Gebäude für eine bestimmte Verwendung an einem bestimmten Ort für eine bestimmte Gesellschaft baut. Entsprechend antwortet auch Malerei stets auf Kontexte und reflektiert ihre Bedingungen. Mit dieser Referenz katapultiert sich Kanter aus dem idealistischen Diskurs der Zweckfreiheit mitten ins Leben. Seine Malerei ist eine Ausweitung des gesellschaftlichen Raums und kommt sogar Sammlern entgegen. Bei einer Serie gemalter Strandkörbe gab er den Bildern die Käufernamen als Titel. Seine verkappte Service-Kunst wird ergänzt durch interne Gegenstrategien. Denn bei einer weiteren Serie abstrahierte er die Farben venezianischer Malerei des 17. Jahrhunderts von Figuren und Landschaften und suchte dadurch allein die Atmosphäre als abstraktes Bild wiederzugeben. Nur der Wechsel der Bezüge sichert ihm Produktionsfreiheit (Preise zwischen 600 Euro und 3500 Euro).

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Auch die Galerie Christian Nagel eröffnet heute (Weydingerstraße 2/4; 19 Uhr; bis 15. Januar) . Die Kuratorin Susanne Prinz animierte neun Künstler zu einem „Tribute for John Taylor“, einem englischen Exzentriker aus dem 17. Jahrhundert. Die Ausstellung ist eine Wundertüte voll gewitzter Handlungen mit Sinn fürs Sinnlose. Richard Long schöpfte Wasser aus dem Atlantik und trug es zum Mittelmeer. Geblieben ist allein eine poetische Textarbeit (25000 Euro). Simon Dybbroe Möller ließ eine Schallplatte pressen, auf der das berühmte „Tacet/4.33“ von John Cage rückwärts (!) aufgenommen ist (4000 Euro). Jan Timme übersetzt ein Palindrom in ein Foto: Glas spiegelt Glas als geschlossene Welt. Annette Kelm bezieht sich auf Taylors Sonette und Michel de Boris auf eine Aktion Taylors. Auf einem selbstgebauten Boot aus Hanfpapier wollte er die Themse bis nach London hinauffahren, um es dem Bürgermeister zu schenken. Nach drei Meilen begann das Faltboot zu sinken. Taylor lenkte es an Land, feierte mit Freunden ein Fest und schenkte jedem ein Stück Boot. Dieser Aspekt beflügelte die Künstler am meisten: sich für eine Idee zu verausgaben und ihr Scheitern in ein verschwenderisches Ereignis zu verwandeln. Manchmal begründen solche Aktionen Kultgemeinschaften – sogar bei Exzentrikern. Gerade dieser Aspekt ist bei Bourriaud der umstrittenste. Kunst sei Kunst, und alles andere ist alles andere, sagen seine Kritiker. Doch sobald eine Ausstellung eröffnet, gehören ihre Werke der Welt, der Sprache, der Gesellschaft.

Peter Herbstreuth

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