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Die 70-Jährige Catherine steht während eines Stromausfalls mit einer Kerze in der Hand am Fenster.

© dpa / Emilio Morenatti

Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch (155): In der Ukraine sind Stromausfälle Normalität

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Von Yuriy Gurzhy

24.7.2023

In all den 28 Jahren, die ich nun in Berlin lebe (und eigentlich auch in den 20 Jahren zuvor in Charkiw), habe ich noch nie ein derartiges Unwetter erlebt. 

19.30 Uhr war es, ich saß an meinem Rechner zu Hause und arbeitete an den neuen Songs für das SkovoroDance-Album, das ich nächste Woche mit den Musikern in Charkiw aufnehmen werde. Die Texte dafür stammen aus dem Buch „Der Garten der Göttlichen Lieder“ (1758) vom Philosophen Hryhorij Skoworoda. Gerade werden sie von meinem Kollegen Serhij Zhadan, der nicht nur ein Dichter, sondern auch Übersetzer ist, ins moderne Ukrainisch übertragen.  

Plötzlich war der Mobilempfang verschwunden

Falls es Vorwarnungen gegeben haben sollte, ließ ich mich davon nicht ablenken. Plötzlich wurde es draußen dunkel und sehr laut. Durchs Fenster konnte ich kaum etwas sehen, so intensiv war der Regen. Es flogen Blumentöpfe von benachbarten Balkonen und andere Gegenstände, die ich so schnell gar nicht identifizieren konnte. 

Ich machte mir Gedanken darüber, wo mein Sohn gerade steckt – hoffentlich nicht unterwegs auf seinem Fahrrad, dachte ich und schickte ihm eine besorgte WhatsApp-Nachricht. Dann knisterte etwas ganz in der Nähe und ein Baum rechts von meinem Fenster krachte herunter. „Krass, hier ist ein Baum umgestürzt”, schrieb ich Boris und merkte, dass mein Mobilempfang verschwunden war. 

Kiew im November 2022 während eines Stromausfalls nach einem russischen Raketenangriff.

© dpa / Foto: dpa/Andrew Kravchenko

Wenige Minuten später ging der Monitor meines Rechners aus – der Strom war weg. Nach fünfzehn Minuten hörte der Regen auf, der Wind ließ nach, die Wolken zogen weiter. Es wurde ruhig, aber der Strom war nicht zurück. Ich beschloss, dass ich für heute mit dem Arbeiten aufhören würde und wollte mir eine Tasse Tee machen; doch ohne den elektrischen Wasserkocher ging dies natürlich nicht. Eine perfekte Gelegenheit zum Lesen, dachte ich und holte „Art Sex Music“ von Cosey Fanni Tutti raus, das ich vor wenigen Tagen gekauft habe. Da es in der Wohnung zu dunkel war, ging ich mit dem Buch raus.

Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg

Nur einmal im Jahr sieht meine Straße so chaotisch aus: am 1. Januar, nach dem Böllermarathon der Silvesternacht. An diesem Abend waren die Menschen für dieses Durcheinander nicht verantwortlich, diesmal war es allein die Natur. Der umgestürzte Baum hatte den Stromkasten getroffen, ein Elektriker arbeitete schon daran. Mitten auf der Fahrbahn stand ein Polizeiwagen, die Polizisten sperrten die Stellen ab, wo größere Äste heruntergefallen waren. 

Ich blieb vor der Haustür stehen. Hier war es noch einigermaßen hell, ich klappte das Buch auf. Mir fiel ein, dass ich es vor zehn Jahren anders wahrgenommen hätte – insbesondere die Passagen, in denen die Autorin, geboren 1951, ihre Kindheit im britischen Kingston upon Hull beschreibt: die Bombentrichter, die damals den Kindern als Spielplätze dienten, die noch herumstehenden Ruinen, zerstört im Zweiten Weltkrieg… Heute, fast 70 Jahre später, werde ich das Gefühl nicht los, dass man so auch die Realien der Nachkriegsukraine schildern könnte. 

Mittlerweile kamen immer mehr Nachbarn heraus – es war offensichtlich, dass auch in anderen Häusern der Strom fehlte. Während der Elektriker am Stromkasten arbeitete, kauften die Bewohner im dunklen Späti nebenan Bier und schauten ihm voller Hoffnung zu.    

Meinen letzten Stromausfall habe ich vergangenes Jahr in Charkiw erlebt. Seit dem Beginn des Großen Krieges im Februar 2022 sind in der Ukraine stunden- und manchmal sogar tagelange Stromausfälle zur Normalität geworden. Als ich an einem sonnigen Dezembertag in einem schicken Hotel im Zentrum Charkiws eincheckte, erklärte mir die freundliche Rezeptionistin mit einem breiten Lächeln, dass in diesem Bezirk täglich zwischen 14 und 17 Uhr der Strom abgeschaltet wird. 

Zu den Zielen des russischen Beschusses gehören neben Krankenhäusern, Schulen und Bibliotheken auch die Kraftwerke. Wenn eins davon getroffen wird, kann es etwas länger dauern, bis der Strom wiederhergestellt ist. Die Befreier aus dem Nachbarland, die Vertreter des Brudervolkes, wie sie sich selbst gern bezeichnen, sind in die Ukraine einmarschiert, um ihre Bürger*innen anscheinend vom Strom zu befreien. Aber nicht einmal das werden sie schaffen. 

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