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Zeit SCHRIFTEN: Grün der Verstand, rot das Blut

Die Erinnerung an die Jugend hat viele Namen. „My salad days“ nennt sie die Titeltragödin von Shakespeares „Antonius und Cleopatra“ mit einem Ausdruck, der sich bis heute erhalten hat.

Von Gregor Dotzauer

Die Erinnerung an die Jugend hat viele Namen. „My salad days“ nennt sie die Titeltragödin von Shakespeares „Antonius und Cleopatra“ mit einem Ausdruck, der sich bis heute erhalten hat. „My salad days / When I was green in judgment, cold in blood“, woraus in Schlegel/Tiecks Übertragung die „Milchzeit“ wird, „als mein Verstand noch grün und kalt mein Blut“. Trotz oftmals frugaler Mahlzeiten müssen die Schriftsteller, Schauspieler, Musiker und Maler, die ihrer „Days of Yore“ gedenken, wie es in einer wiederum aus dem Mittelenglischen geretteten Wendung heißt, die Astri von Arbin Ahlanders Interviewblog www.thedaysofyore.com den Namen gegeben hat, wenigstens nicht von Hungerjahren berichten. Die Zeit vor ihrem Ruhm kennt zwar trostloses Dosenfutter in Hinterzimmern und Kellerräumen, Stunden schäbiger Einsamkeit, aber auch Momente des glücklichen Aufenthalts in einer Lehr-, Latenz- und Übergangszone, ja Augenblicke des inneren Jubilierens. Nichts, das wissen sie alle, führt dorthin zurück, doch alles hat von da seinen Ausgang genommen.

Die weit über 100 Gespräche, die die schwedische, fast ein Jahrzehnt in den USA ansässige Übersetzerin und Literaturagentin seit Mai 2010 gesammelt hat, sind ein beispielloser Erfahrungsschatz – und ein vergnüglicher dazu: Die Lust der Befragten, sich ihrer Salattage zu entsinnen, springt auf den Leser über. Wenn es sich bei der Mehrzahl der Interviewten um US-amerikanische Gegenwartsautoren handelt – prominente Ausnahmen sind etwa die Performancekünstlerin Marina Abramovic, der israelische Romancier David Grossman oder Ernest Hemingway, der in einer fingierten Begegnung maulfaul antwortet – liegt das am natürlichen Beuteschema der Betreiber.

Von Gary Shteyngart bis zu Nathan Englander, von John D’Agata bis zu David Shields, von Jonathan Lethem bis zu Ben Marcus: Viele auch hierzulande bekannte Namen sind vertreten. Darüber hinaus entsteht ein literarisches Panorama, das den „Paris Review“-Herausgeber Lorin Stein einschließt oder den „Atlantic“-Redakteur und Blogger Ta-Nehisi Coates. Mit dieser programmatischen Konsequenz hat es das so noch nicht gegeben.

Das trifft auch auf die Grundidee von www.thetalkhouse.com zu: „Musicians talk music“. Zwischen Pop, Rock, Hip-Hop und Jazz lässt Chefredakteur Michael Azerrad Musiker über die neuen Alben ihrer Kollegen schreiben – und hofft, dass die sich dann ebenfalls äußern. Lou Reed lobt unerwartet Kanye West, Dinosaur-Jr.-Gitarrist Lou Barlow freut sich über Black Sabbath, und der Jazzpianist Vijay Iyer lässt sich auf die elektronischen Rapgewitter von Flying Lotus ein.

Die Besetzung gegen den Strich (oder manche nun nicht mehr heimliche Leidenschaft) fördert mitunter Erstaunliches zutage. Um zu funktionieren, braucht das Projekt freilich mehr als die Spontaneität von Blindfold Tests, wie sie das „Downbeat Magazine“ zu einer Kunstform gemacht hat. Es verlangt nach einer Idee kritischer Gerechtigkeit. Und da sind Musiker gründlichen Rezensenten nicht notwendig überlegen.

Ein besonders markantes Beispiel ist Matthew Shipps Vernichtung von Keith Jarretts Trioalbum „Somewhere“. Shipp, selbst Pianist, doch in deutlich radikaleren Jazzgefilden unterwegs, tritt erst Jarretts Soloimprovisationen samt deren spirituellem Überbau in die Tonne des Prätentiösen, um dann das Dreierformat mit Gary Peacock und Jack DeJohnette als konzeptionell antiquiert und kraftlos abzutun.

Gerade Göttern darf man jederzeit an den Karren fahren. Nur gehört zur erfolgreichen Blasphemie mehr als die Gehässigkeit von Geschmacksurteilen. Shipp, der gegen Jarrett zu allem Überfluss auch noch die afroamerikanische Karte zieht, müsste seinen Verdacht, dass es sich um verwässerten Impressionismus und fade Vamps handelt, analytisch untermauern und eine Vorstellung entwickeln, was es überhaupt heißt, in einer weitgehend tonalen Sprache frei zu improvisieren. Stattdessen erklärt er: „Ich bin kein Musikschreiberling, nur ein Musikerarsch, deshalb verleihe ich meinem Geschmack keinen Nachdruck. Er ist eben das – mein Geschmack.“ Sprechen wir nicht von einem Dialog: Selbst Einladungen zu einem Schlagabtausch sehen anders aus.

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