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Kultur: Zeit zu siegen, Zeit zu erben

Der Trend zur Vereinzelung – und zum Kalauer: Armin Petras alias Fritz Kater gewinnt den Mülheimer Dramatikerpreis 2003

„Ah, look at all the lonely people“ – für deutsche Stückeschreiber ist der alte Beatles-Refrain weniger ein Empathie-Appell als eine Strategieformel, die Erfolg auf dem Theater verspricht. Die Vereinzelung des Menschen in der Überkommunikation ist ein wohl niemals sich selbst verbietendes Bühnensujet. Nicht mal für die Mülheimer Theatertage. Der „Stücke“-Wettbewerb wählt seine jährliche Bestenschau neuer Dramen eigentlich nicht nach thematischen Gesichtspunkten aus. Doch dieses Jahr schienen auch Mülheim vom Umherirren Vereinsamter und Depravierter fasziniert zu sein und hat sogar den mit 10 000 Euro dotierten Dramatikerpreis einem solchen Stück verliehen: „zeit zu lieben zeit zu sterben“ von Fritz Kater alias Armin Petras.

In diesen Szenen einer Jugend in der Vorwende-DDR ballt sich viel Sehnsucht im engen Raum, wird in die Luft gehoben durch Saufen und Sex und zum Absturz gebracht durch gescheiterte Ausreiseversuche, Freundschaftsverrat, Abtreibung, zuletzt die NVA. Fritz Kater (das Pseudonym wurde angeblich 1966 in Bad Kleinen geboren) verdient den Preis. Dass sein reales Alter ego Armin Petras (geboren 1964 bei Celle) in der Uraufführungs-Inszenierung des Hamburger Thalia Theaters das Gewicht des Stücks unentwegt herunterzuspielen versuchte, stand hier nicht zur Debatte. Die Mülheimer Preisjury (Theatermacher und Kritiker sowie der Dramatiker Oliver Bukowski) debattierte wie gewohnt öffentlich, und so zeigte sich, dass der Preis um ein Haar an Roland Schimmelpfennigs „Vorher/Nachher“ gegangen wäre.

Mit ihm (in der großartigen Hamburger Uraufführungs-Inszenierung Jürgen Goschs) war das Festival eröffnet worden. Setzt bei Fritz Kater die Einsamkeit Rostflecken an, so ist sie bei Schimmelpfennig verchromt: Da ist die Frau über Siebzig und die Frau um die Dreißig, sind die zwei Handwerker, die immer alles zusammen machen und die zwei überanstrengten Tänzer. Da ist die Kosmetikberaterin mit Hang zu Höherem, die einen jener selbstsicheren Männer sucht und doch nur einen findet, der unbedingt was für den Seitensprung braucht. Ein Notat flüchtiger menschlicher Anwesenheitsspuren: insgesamt 38 Figuren huschen in 51 Szenen vorüber, finden sich zu Paaren, um sich aus innerer Leere herauszuvögeln, und gehen am Ende doch wieder leer aus.

Viel Sex, schon im Titel, auch bei Lukas Bärfuss’ Beitrag „Die sexuellen Neurosen unserer Eltern“. Doch geht es in dem jüngsten Stück des Schweizers nicht um jene, sondern um die Neurose Doras, eines geistig behinderten Mädchens. Dora will nichts als ficken (das Hauptverb dieses Dramenjahres, zigfach in fast jedem Stück). Die das Mädchen fürsorglich Umgebenden wollen sie nicht hindern; doch Dora wird schwanger, da macht man ihr das Kind weg und das Reproduktionsorgan gleich mit. Eine schöne Entlarvung aufklärerischen Selbstbetrugs, doch dabei bleibt es auch. Bärfuss’ „Vier Bilder der Liebe“, ein weit komplexeres Stück, wäre die bessere Wahl gewesen.

Den Mülheimer Theatertagen konnte man in der Vergangenheit selten vorwerfen, die falsche Auswahl getroffen zu haben; hier aber muss man es. Warum von Elfriede Jelinek zwei Portionen ihres „Prinzessinnendramen“-Fünfteilers eingeladen wurden, eine Versammmlung eher schwacher Etüden, von denen ein Teil zudem letztes Jahr schon dabei war und seiner Autorin den Mülheimer Dramatikerpreis eintrug – das bleibt ein Rätsel. Doch wenn Jelinek einen ihrer legendären Kalauer setzt, ist dies auf einem Niveau und von einer Suggestion, die andere nicht in einem ganzen Stück aufbringen. Etwa Marius von Mayenburg. Bei dem 1972 geborenen Schaubühnen-Dramaturg wird einfach nicht klar, warum er in seinen bisher sieben Stücken immer nur auf längst erledigte Bürgermonster anlegt. Sein in Mülheim gezeigter Jüngster heißt „Das kalte Kind“. Darin tritt lauter charakterliches Leergut auf: Sexualkranke, Psychopathen und wie immer die bösen Eltern. Daraus könnte eine Farce entstehen, doch dem Autor ist sein Hass auf Zwischenmenschliches seit „Feuergesicht“ noch immer nicht zu einem anständigen Weltekel gediehen, sondern bleibt ein schrecklich deutscher Furor.

Seit letztem Jahr kooperieren die „Stücke“ mit der Ruhrtriennale, die Folge ist ein Stückauftrag des Mortier-Festivals, der in Mülheim realisiert wurde. Leider fiel der Auftakt dieser Zusammenarbeit mit Terézia Moras „Sowas in der Art“ kraftlos aus. Im gegenüber früher deutlich aufgewerteten Rahmenprogramm gab es weitere Kooperationen: mit dem Berliner Theatertreffen und dem Uraufführungstheater Berlin zwecks Förderung junger Dramatik auch an der Ruhr. Zudem wird das Gewinnerstück nun jährlich bei den Salzburger Festspielen gezeigt. All dies ist eine Aufwertung der „Stücke“, die dieses wichtige Festival lange verdient hat.

Sieben Produktionen waren diesmal aus 160 Uraufführungen des letzten Theaterjahres ausgewählt worden; zu Ende gingen die Theatertage mit zwei noch weniger bekannten Vertretern der dominierenden jüngeren Dramatiker-Generation: Ulrike Syha kam mit „Nomaden“, das sich im Spiel mit dem Genre SF-Thriller leider verspekuliert, wiewohl sprachlich klug konstruiert ist. Und Martin Heckmanns zeigte „Schieß doch, Kaufhaus!“ Und das Kaufhaus schoss mit allem, was an kalorienreduzierten Sonderangeboten zum Thema Globalisierung so in den Regalen liegt. Einwegware, wäre sie von den Akteuren des Staatsschauspiels Dresden nicht so umwerfend präsentiert worden – wohl der Grund, warum „Kaufhaus“ den Publikumspreis errang.

Nach Trends zu fragen ist gefährlich; doch überwogen offene Dramaturgien, Brüche, Schnitte, durchlässige Figuren. In ihrem 28. Jahr zeigten die Mülheimer Theatertage durchgängig gute Regieleistungen und hervorragende Schauspieler, aber nicht ganz so herausragende Stücke. Wenn Mülheims „Stücke“ bald Dreißig werden, sollten sie den Mut haben, die Statuten zu überdenken: Nicht die besten Stücke, sondern die besten Uraufführungen sollten zu sehen sein.

Ulrich Deuter

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