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Kultur: „Zerrissenes Verhältnis“

Der Nationalismus nimmt zu: Stimmen zu Pamuks Absage und zur Lage in der Türkei

Michael Krüger, Leiter des Hanser Verlags : Pamuk hat mir mitgeteilt, er könne nicht nach Deutschland kommen. Für ihn ist diese Reise aber nicht aufgehoben, sondern nur aufgeschoben. Er sieht sich im Moment vor allem psychisch nicht in der Lage, die Ehrendoktorwürde der FU anzunehmen und eine anschließende Lesereise zu absolvieren. Denn er käme nicht umhin, Fragen zum Mord an seinem Freund und Kollegen Hrant Dink zu beantworten. Dazu kommt der aktuelle türkische Streit um den Paragrafen 301, der die Anklage und Verurteilung türkischer Bürger wegen Beleidigung des Türkentums erlaubt, und die für Pamuk damit verbundene prekäre Sicherheitslage.

Peter Schneider, Schriftsteller: Es ist ein bestürzender Vorgang, wenn ein Schriftsteller in Fast-Europa bedroht wird, nur weil er die Wahrheit sagt. Wenn diese Bedrohung der Grund für Pamuks Absage ist, dann müssen wir uns alle dazu verhalten. Ich sage das auch in Richtung meiner türkischen Kollegen, die sich nach dem Nobelpreis hämisch und neidisch über Pamuk geäußert haben, als sei ein Krawallmacher ausgezeichnet worden. Zudem ist es skandalös, dass es in einem Land wie der Türkei einen Paragrafen gibt, der jedem Strafe androht, der sich abfällig über sein Land äußert.

Zafer Senocak, Schriftsteller: Pamuk wird seit Monaten massiv bedroht, und nach der Ermordung Dinks wurde die Situation noch schwieriger. Die türkische Regierung muss dringend handeln, denn der Fall zeigt, dass sich die Bürger nicht mehr frei bewegen können. Aber sie ist viel zu schwach, und Europa unterstützt die demokratischen Kräfte in der Türkei viel zu wenig. Ich bin sehr pessimistisch, was die demokratische Entwicklung des Landes betrifft. Nach außen kann man den Eindruck gewinnen, dass die Türkei liberaler und offener geworden sei, aber tatsächlich reagiert das Land auf liberalere Strömungen wie ein Militärstaat. Gleichzeitig gehen immer noch viel zu wenige Menschen auf die Straße. Freiheit wird in der Türkei nicht so hoch gehängt. Pamuk hat mit seiner Absage die Diskussion vielleicht mehr angeheizt, als wenn er gekommen wäre. Gerade Europa muss sich dieser Diskussion stellen. Viele Türken halten das ständige Hin und Her in der EU-Beitrittsfrage für ein falsches Spiel, so bekommen die Nationalisten gerade unter jungen Leuten immer mehr Zulauf. Bei den in Deutschland lebenden Türken ist dagegen eher die gewachsene Religiosität verbreitet und nicht der Nationalismus.

Ulrich Peltzer, Schriftsteller: In Orhan Pamuks Angst spiegelt sich eine Türkei, die nach wie vor ein zerrissenes Verhältnis zur Moderne hat. Auf der einen Seite gibt es eine säkulare und demokratische Gesellschaft, auf der anderen eine religiös und nationalistisch geprägte. Ich erinnere mich an eine Kreuzberger Lesung aus Pamuks Texten am Tag der Nobelpreis-Verleihung im Dezember, an der ich zusammen mit dem Schauspieler Birol Ünel und der Schauspielerin Jale Arikan teilnahm. Zur Vorbereitung hatte ich einen jungen Türken in einem Imbiss in Prenzlauer Berg gebeten, mir die Aussprache einiger Stadtteile von Istanbul beizubringen. Als ich ihm den Anlass meiner Bitte erklärte, schaute er mich mit großen, misstrauischen Augen an und legte seine ganze Skepsis in die Worte: Was, Orhan Pamuk? In dieser kurzen Begegnung liegt für mich auch das gespaltene Verhältnis der in Deutschland lebenden Türken zu ihren konkurrierenden Kulturen.

Johano Strasser, PEN-Präside nt: Wichtig ist, dass es nicht die Verlage, Literaturhäuser, Buchhandlungen oder Universitäten waren, die aus Furcht vor Anschlägen den Besuch abgesagt haben – das wäre bedenklich, das wäre „Idomeneo“. Wir sollten deutlich machen, dass wir uns nicht einschüchtern lassen von Nationalisten, die jede kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit mit Gewalt bis hin zu Mord beantworten.

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