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1974 entwarf Ursula Sax eine begehbare Plastik, die nie realisiert wurde

© Ursula Sax / Bjørn Mündner

Zum 80. Geburtstag von Ursula Sax: Im Dickicht der Drähte

Der Geist der autonomen Form: Die Galerie Semjon Contemporary entdeckt das Werk der Bildhauerin Ursula Sax zu ihrem 80. Geburtstag neu.

Als Bildhauerin hat sich Ursula Sax keinem Stil und keiner Mode verschrieben. Sie ist immer der in ihr brodelnden Kraft gefolgt. Ohne Rücksicht auf die Eigenheiten des Kunstmarktes und ohne sich künstlerischen Moden zu unterwerfen, entwickelte sich ihr Werk. Es waren die Notwendigkeiten, die unabdingbar und unverhandelbar ihr Gesamtwerk formten. Die Galerie Semjon Contemporary stellt es nun aus. In ihren Räumen bietet sie einen sagenhaften Überblick mit Zeichnungen, Keramik (5000–7000 €) Modellen, Grafik (ab 700 €) und Skulpturen (16 000–34 000 €) und eröffnet zum 80. Geburtstag der in Berlin lebenden Künstlerin eine ganz neue, frische Welt in Ursula Sax’ bildhauerischem Universum.

Mit 16 fängt sie an, Materialien zu formen. Seitdem hat sie ihre künstlerische Kraft nie verlassen. Wenn Ursula Sax Räume sieht, beginnt ihre kunstvolle Auseinandersetzung mit dem Wesen dreidimensionaler Strukturen. Das Körperhafte reizt sie, mit einer unglaublichen Präzision untersucht sie jeden Ort – Plätze, Parks, Hallen, Flure oder kleine, intime Strukturen – auf sein Wesenhaftes. Ursula Sax ist immer Künstlerin, wenn sie Räume ästhetisch analysiert. Und wenn sie die Raumstrukturen durchdrungen hat, setzt sie sie in Beziehung zu einem Kunstwerk, das sich zeitgleich in ihrem Geist und ihrer Seele zu entwickeln beginnt.

Die Bildhauerin Ursula Sax 1965 in einer Galerie in Berlin.
Die Bildhauerin Ursula Sax 1965 in einer Galerie in Berlin.

© imag/ZUMA/Keystone

Ihre Kunst siegt über die Umgebung

Das Werk selbst steht im Zentrum ihrer Überlegungen, und doch ist keine ihrer Arbeiten denkbar ohne einen Umraum, der wie ein Resonanzboden die künstlerische Kraft ihrer Skulpturen und Plastiken zum Schwingen bringt. Das Verhältnis zwischen Werk und Raum ist aber nicht so organisiert, dass ein harmonieseliges Ganzes entsteht, im Gegenteil. Der Künstlerin gelingt ein spannungsreiches Verhältnis zwischen bildhauerischer Arbeit und Umraum. Beide Elemente reiben sich aneinander. Der städtische Raum, die Galerie, die Halle und der Garten werden zu einer Bühne und bilden den Rahmen für ihre künstlerischen Experimente. Ursula Sax nimmt die Gegebenheiten der Wände, der Böden, der Häuser, der Straßenzüge und des Lichts auf und arbeitet mit ihnen. Alle ihre Werke entstehen aus dem Geist der autonomen Form. Sie bleiben unabhängig und setzen das Zusammenspiel zwischen Plastik und Raum auf das Spannendste fort. Wie ein Widerhall kommentieren die Arbeiten ihren Umraum und entwickeln immer eine ganz eigene Dominanz. Ihre Kunst siegt über die Umgebung. Es sind keine Denkmäler und auch keine Mahnmäler, deren Form zum Gedenken anhalten soll. Ihre Interventionen konfrontieren den Betrachter mit dem Werk an sich. Dass dabei die Schönheit künstlerischen Schaffens in all ihren Formen im Zentrum der Auseinandersetzung mit dem Raum steht, ist unübersehbar. Was Schönheit für die Künstlerin bedeutet und wie sich ihre Haltung zu diesem Begriff über die Jahre wandelt, zeigt ihr Gesamtwerk: Weiche Formen lösen Scharfkantiges ab, Zerklüftungen weichen Fließendem, Raues folgt auf Glattes oder umgekehrt.

Stahl und Freiheit

Ursula Sax ist eine Materialkünstlerin. Ihre Form entwickelt sie aus der Beschäftigung mit den Materialien, ihrem Volumen, den Oberflächen. Kein Material ist ihr fremd, als wahre Forscherin sucht sie unentwegt nach den grundlegenden Eigenschaften von Metallen und Steinen, Ton oder Stoff. Was passt und was nicht, unterliegt allein dem Willen der Künstlerin, und es gelingt ihr, dem jeweiligen Material alles abzuringen. Selbst Textilien werden an die Grenze ihrer Belastbarkeit getrieben, so dass eine innere Spannung entsteht, die an die Oberfläche dringt – innere und äußere Spannung werden eins, sie werden sichtbar und ertastbar.

Wie wirkmächtig Ursula Sax' Arbeiten sind, kann man im Galerieraum ebenso sehen wie im städtischen Umfeld. Ihre fulminate gelbe Stahlschlange „Looping“ von 1992 für einen nie realisierten Haupteingang der Berliner Messe beherrscht wie ein spielerischer Peitschenknall das strukturlose Umfeld neben der Avus. Die Aula der deutschen Schule in Brüssel schwebt schwerelos zwischen gezackten hölzernen Sitzreihen, von der Decke hängende strukturelle Zaungebilde und ihre Entwürfe für die KPM skizzieren aus dem feinen, weißen Porzellan kleine, empfindliche Landschaften. Die zahlreichen Modelle in der Ausstellung zeigen, dass schon die frühesten Arbeiten den Raum erobern wollen. Sie streben den Wänden zu, greifen in die sie umgebende Luft, sie versuchen den Umraum zu durchbrechen oder ziehen sich zurück und verweigern, ganz introvertiert, jede Berührung – so wie bei dem wunderbaren flachen Brunnen vor dem Rathaus Zehlendorf.

Spektakulär sind ihre Entwürfe für eine begehbare Großplastik aus den siebziger Jahren für das Bundesbildungsministerium in Bonn, wenn sie gebogene Stahlplatten sockellos aufstellt. Sie verformt den Stahl so weit, dass er zeichnerische Qualitäten bekommt. Wie in einem Landschaftsgarten erfindet sie die „schöne Linie“, die den Blick durch ein feines Wechselspiel eben dieser Linie mit den Qualitäten des Stahls lenkt. Wie Fahnen verlassen einzelne Stahlbänder ihren vorgezeigten Weg, und der Stahl wird plötzlich ganz leicht. Die Fahnen streben hinaus in den Umraum und in die Freiheit. Wer zum Abschied den Blick noch einmal durch die Räume von Semjon Contemporary schweifen lässt, der fühlt diese Freiheit.

Galerie Semjon Contemporary Schröderstr. 1; bis 21. 11., Di–Fr von 13–19 Uhr. Katalogvorstellung: 1. 11., 15–17 Uhr.

Jan Maruhn

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