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Kultur: Zwischen Hitler und Hölle

Brecht trägt Strapse: der Cabaret-Pop der Dresden Dolls

Ja doch, liebe Kinder, der Weihnachtsmann existiert. Leider kommt er nur einmal im Jahr. Die Überraschung: diesmal schon im April!

„Yes, Virginia“ heißt das neue Album des amerikanischen Popduos The Dresden Dolls, das uns soeben beschert wurde. Der Titel spielt auf einen Brief an, den die damals achtjährige Virginia O’Hanlon im Jahr 1897 an die New York Sun schrieb. Sie wollte wissen, ob es den Weihnachtsmann gibt. Die Antwort, die das Blatt ihr gab, wurde zum geflügelten Wort: „Yes, Virginia, there is a Santa Claus.“ Der Weihnachtsmann, so versicherte die Redaktion der jungen Leserin, existiere genauso sicher wie die Liebe, der Edelmut oder die Hingabe. Denn: „Die wirklichsten Dinge der Welt sind solche, die weder Kinder noch Erwachsene sehen können.“

Die Dresden Dolls haben sich aus den Versatzstücken von Vaudeville, KurtWeill-Musicals und Punkrock ihren eigenen kleinen Kosmos zusammengezimmert, ein seltsames Paralleluniversum, in dem die zwanziger Jahre niemals aufhören. Die Sängerin und Pianistin Amanda Palmer zeigt sich bei Konzerten in Strapsen und mit Duttfrisur, Schlagzeuger und Gitarrist Brian Viglione trägt Nadelstreifenanzug und Bowlerhut und sieht darin so melancholisch aus wie Kafka. Angeblich haben sie sich im Jahr 2000 bei einer Halloweenparty in Boston kennen gelernt, seither leben Palmer und Viglione ihre Vorliebe für nostalgische Kostümierungen und schrille Maskeraden gemeinsam aus. Mindestens so sehr wie als Musiker verstehen sie sich als Schauspieler und Performanceartisten.

„Ich bin eigentlich mehr ich selbst, wenn ich auf der Bühne stehe. Die Songs, die ich schreibe, sind so persönlich, manchmal auch peinlich, dass ich auf der Bühne authentischer wirke als dahinter“, sagt Palmer. Das Debütalbum „The Dresden Dolls“, auf dem die Sängerin mit zickiger Sirenenstimme die Vorzüge von Liebesautomaten anpries („Coin Operated Boy“) und ausgemusterte Lover ins Zuchthaus wünschte („Missed Me“), machte die Kabarett-Rocker vor zwei Jahren über Nacht bekannt. Ihre Auftritte, die aufwändig inszenierten Varieté-Spektakeln gleichen, sind seither permanent ausverkauft. Glam gehört zum Rock dazu, seit sich androgyne Pioniere wie David Bowie und Marc Bolan vor 35 Jahren Frauenfummel überstreiften. Die Dresden Dolls sind begnadete Wiederbeleber dieser Rollenspiel-Kunst, sie haben den Pop wieder sehenswert gemacht. Leider war ihre Musik auf Dauer etwas anstrengend. Bislang jedenfalls.

„We all know / There’s no Hitler and no Holocaust / No Winter and no Santa Clause / And yes, Virginia, all because / The Truth won’t save you now“, säuselt Amanda Palmer. Beckenschläge zischeln, hämmernde Klavierakkorde pflügen durch die pathetisch crescendierende Melodie. „Mrs. O.“, das böseste Stück auf „Yes, Virginia“, ist ein schwarzes Märchen über eine Wirklichkeitsverleugnerin, die an nichts mehr glaubt: nicht an Hitler und den Holocaust, auch nicht an die Hölle. In „Mandy goes to Med School“ geht es um Gangbangs und Paranoia, „Shores of California“ beklagt, dass die Geschlechter einfach nicht zueinander passen: Mädchen wollen tanzen, Jungs immer nur das eine.

Als „Brechtian Punk Cabaret“ beschreiben die Dresden Doll sich selbst. Brecht ist Palmers Hausgott, seit sie als 15-Jährige eine „Sezuan“-Aufführung sah. Auf „Yes, Virginia“ klingt das Duo nun trotzdem mehr nach Pop als nach Tingeltangel, was auch an den Produzenten Sean Slade und Paul Q. Kolderie liegen dürfte, die zuvor mit Radiohead und den Pixies gearbeitet haben. Palmers Honkytonk- Piano scheppert heftig, Viglione trommelt Marschrhythmen. Immer wieder aber runden sich die sperrigen Brocken dieses über alle Stränge schlagenden Musiktheaters zu lieblichstem, von hymnischen Backgroundchören begleiteten Weltumarmungs-Wohlklang. „Life is no Cabaret / We don’t care what you say / You Motherfuckers you’ll sing someday“, singt Palmer in der hinreißenden Akustikballade „Sing“. Kabarett war gestern.

The Dresden Dolls: Yes, Virginia (Roadrunner Records)

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