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Mit Verve und Talent. Lily Epply im Solo „Möwe“ am BE.

© JR Berliner Ensemble

„Möwe“ im Neuen Haus des Berliner Ensembles: Zwischen Klischee und Kanon

Gestrige Vorurteile, heutige Theatermoden: „Möwe“ als Solo mit Lily Epply im Neuen Haus des Berliner Ensembles.

Devot tritt eine junge Schauspielerin vor einen rosafarbenen Vorhang. „Mein Name ist Nina Michajlowna Seretschnaja“, spricht sie mit russischem Fake-Akzent ins Publikum und nestelt an ihrem Outfit, einer interessanten Melange aus cocktailfarbenem Stretchmini und finaler Ballett-Tütü-Inspiration. „Ich bin 1896 geboren und komme aus Tschechow“, fährt sie fort.

Die von Lily Epply gespielte Frau, die da auf schwindelerregend hohen Aschenputtel-Goldschühchen vor uns steht, ist also, so die Behauptung, eine Wiedergängerin der Schauspielerin Nina aus Tschechows 1896 uraufgeführtem Stück „Die Möwe“. Diese Nina tritt zunächst mit jugendlicher Leidenschaft für neue Theaterformen ein, bevor sie sich leider in einen durch und durch kunstkulinarischen und auch ansonsten für sie falschen Mann verliebt und letztlich gleichermaßen einsam wie künstlerisch unerfüllt in der Provinz verendet.

Die aktuelle BE-Nina tut allerdings schon prophylaktisch alles dafür, dass ihr dieses Schicksal erspart bleibt. Zum Beispiel schickt sie jedem Halbsatz ein derart niedlich-nervöses Lächeln hinterher, dass das Publikum sie einfach lieb haben muss. Dessen Komplizenschaft ist für Nina karriereentscheidend: „Ich bin hier, um mich zu bewerben, zu werden feste Ensemblemitglied an die Berliner Ensemble“, radebrecht sie mit herzig falscher Grammatik wacker voran. Und bringe sie unsere „Herzen zum Brennen“, erklärt sie weiter, werde sie beim Schlussapplaus auf der Homepage des Hauses aufgelistet sein.

Mit Verve und Talent

So weit die Rahmenhandlung von „Möwe“ (wieder am heutigen Sonntag sowie vom 18. bis 20. Februar), einem knapp 90-minütigen Solo, das laut Programmheft aus einer realen Vorsprechsituation entstanden ist: Die junge Schauspielerin Lili Epply hatte mit Unterstützung ihrer Burgtheater-Kollegin Sarah Viktoria Frick tatsächlich einen Monolog für ihre Bewerbung am Berliner Ensemble erarbeitet, der dann zu Epplys Engagement am Haus führte. Unter zusätzlicher Mitwirkung der Autorin Anne Kulbatzki wurde dieses Vorsprechen schließlich zu jenem abendfüllenden Monolog weiterentwickelt, der nun eben unter Fricks Regie zur Premiere kam.

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Schon aus purem Zuschauerinnen-Eigennutz kann man freilich nur hoffen, dass die Bewerbung im wahren Leben klischeeärmer ablief, denn andernfalls stünde zu befürchten, dass man sich künftig bei Rollenprofilen langweilen muss, für die – sofern es sie überhaupt je gab – in der Theaterhistorie wirklich sehr, sehr weit zurückzugehen wäre. Von der einstigen BE-Intendantin Helene Weigel ist jedenfalls nicht bekannt, dass sie sich als „Mutter Courage“ mit einem entschuldigenden Lächeln vor den Planwagen gespannt hätte.

Die Frage, ob es wirklich nötig ist, derart viel Zeit und Energie auf die redundante Vorführung vorgestriger Klischees zu verwenden, stellt sich umso drängender, als es gleich viel kurzweiliger wird, sobald Epply die süße Entschuldigungssuada-Rahmenhandlung verlässt, um sich kanonische Frauenrollen anzueignen und sich bei dieser Gelegenheit ein bisschen über gegenwärtige Theatermoden lustig zu machen. Mit Verve und Talent zählt Epply in Dauerschleife den diskursiven Anforderungskatalog an zeitgemäße Bühnenkunst auf („Feminismus, Diversität, Besetzungspolitik, wie wollen wir leben, Klima …“).

Als Shakespeare’sche Julia parodiert sie das „Textflächen“-Theater, gibt Beatrice aus „Viel Lärm um nichts“ buchstäblich breitbeinig mit matriarchalem Machismo und stellt sich im stilechten Brecht-Weill-Moritatenverschnitt die zentrale Frage: Bin ich relevant? Eigentlich erstaunlich, was der olle Kanon alles hergibt, sofern man sich nicht ständig für sich selbst entschuldigt.

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