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Dirty Dancing mit dem Wischmop. Der Performer Fritz Donnelly im Video zu „Dirty Secret“ von The Peach Kings.

© The Peach Kings

Zwischen Kritik und Krise: Wie steht es um das Musikvideo im Jahr 2022?

Eine Ausstellung in der Völklinger Hütte widmet sich dem Musikvideo. KI, Klimakrise, politische Gewalt: Welche Antworten das Medium heute noch liefern kann.

Die Frage, wie es um das Musikvideo steht, hängt eng damit zusammen, wie man selbst zum Musikvideo steht. Darauf haben sie in der ehemaligen Gebläsehalle des Weltkulturerbes Völklinger Hütte eine deutliche Antwort gefunden: zu den Füßen einer drei Meter großen Billie Eilish, die mit den Armen rudernd aus einer von ihr eingetretenen Wand stolpert.

Das ist die erste Szene aus Eilishs wundervollem kleinen Geschlechterrollen-Twister „Bad Guy“, mit diesem Video beginnt die Ausstellung „The World of Music Video“ (bis 16. Oktober). Eines von 62 Musikvideos, die auf Großleinwände von bis zu sieben Metern Spannweite projiziert werden – verteilt zwischen Rohren und Rädern, Kesseln und Maschinen der stillgelegten Industriehalle. Mit insgesamt 84 Videos aus 30 Ländern verspricht die Ausstellung ein „noch nie realisiertes Panorama des Genres Musikvideo“.

Zu den Füßen von Billie Eilish, die gerade in einem roten Kindersportwagen die Straße runterrollt, muss man sich nur ein halbes Mal um die eigene Achse drehen, schon rücken die vier ikonischen, von oben angestrahlten Queen-Köpfe ins Blickfeld. Hoch oben auf der anderen Seite der Halle läuft „Bohemian Rhapsody“, ein Frühwerk der Kunstform, noch vor MTV und Musikfernsehen.

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Täuschen lassen darf man sich nicht von diesem Brückenschlag. „The World of Music Video“ ist keineswegs als chronologische Poplehrstunde geplant. Jahrzehnte und Genres fließen ineinander, als Zuschauer*in bewegt man sich mehr forschend als verstehend zwischen den Leinwänden und Fernsehmonitoren. Statt Geschichte soll es um Gegenwart gehen, die großen Themen: KI, Klimakrise, politische Gewalt, Genderfragen, Identität. Kann das Medium Musikvideo das überhaupt leisten? Und wie steht es eigentlich um das Musikvideo im Jahr 2022?

In der Pandemie wurde das Musikvideo zum Konzertersatz

Wenn Pop ins Museum eingeliefert wird, dann ist der Puls des Zeitgeists meist nur noch sehr flach zu spüren. Zumindest in dieser Hinsicht muss man Entwarnung geben. Der Global Music Report 2021 der International Federation of the Phonographic Industry verzeichnet einen Anstieg von knapp 16 Prozent bei den Einnahmen durch werbeunterstützte Streams, worunter auch das Video-Streaming via Youtube und anderen Plattformen fällt. Daten zu Musikverkäufen von Nielsen MRC legen nahe, dass Nutzer*innen in den USA im Lockdown des Frühjahrs 2020 vermehrt auf Musikvideoinhalte zugegriffen haben. Der Anteil der Videostreams stieg deutlich an, während im gleichen Zeitraum Audiostreaming zurückging.

In der Pandemie wurde das Musikvideo zum audiovisuellen Ersatz der Live-Erfahrung. Man nimmt, was man kriegt. Von Niedergang kann keine Rede sein. Nach dem Ende des Musikfernsehens und der Etablierung der Internetkultur hat das Genre noch einmal ordentlich beschleunigt. Ein Beispiel: „Gangnam Style“, das Hit-Video des südkoreanischen Rappers Psy von 2012, brauchte noch fünf Jahre, um die Drei-Milliarden-Views-Marke auf Youtube zu knacken. Luis Fonsis und Daddy Yankees „Despacito“, das meistgestreamte Musikvideo der Welt, schaffte das 2017 innerhalb eines Jahres.

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Das Internet hat für Musikvideoproduktionen neue Freiräume geschaffen, aber auch neue Abhängigkeiten. In Zeiten von schmalen Spotify-Tantiemen wird die persönliche Fanbindung für Künstler*innen immer wichtiger. Und die verlangen Content: auch und vor allem in visueller Form, vom epischen Musikvideo über Live-Streams bei Instagram bis zu kurzen Tiktok-Schnipseln. Musikvideos sind persönlicher geworden, auch weil neben dem kreativen Input für viele Künstler*innen ein finanzieller steht. Das Budget der Musiklabels für aufwendige Videoproduktionen ist in den vergangenen Jahren immer weiter zurückgegangen, nicht selten müssen Künstler*innen einen Großteil der Produktion aus eigener Tasche stemmen.

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Vorläufiger Höhepunkt dieser Entwicklung war wohl im Jahr 2016 Beyoncés megalomanisches visual album „Lemonade“. Ein Protest- und Selbstermächtigungsfilm, eine Feier Schwarzer und afrikanischer Communitys, voller Verweise, Zitate, Hommagen und Querverbindungen, von Black-Panther-Ästhetik bis zu Julie Dashs „Daughters of the Dust“. Andererseits aber auch die Zementierung von Beyoncés Status als Ein-Prozent-Popstar an der Spitze ihres Weltunternehmens.

Spannungsfeld zwischen Systemkritik und Verwertung

Diesem Spannungsfeld zwischen Empowerment, Repräsentation und Systemkritik auf der einen und der Stärkung kapitalistischer Verwertungslogik auf der anderen Seite, zweifellos eine große Frage der Gegenwartskunst, kann man in der Völklinger Gebläsehalle nachspüren. Hier taucht Beyoncé zusammen mit Ehemann Jay-Z als The Carters auf, „Apeshit“, im Louvre. Was jedoch fehlt, ist Kontext. In den kurzen Textchen, die auf den Ausstellungssmartphones aufblinken, wenn man sich einem Video nähert, reicht es meist nur für ein paar Stichworte. Misogynie, Sexualisierung und Ausbeutung bei Britney Spears’ berühmtem Schulmädchenvideo „… Baby One More Time“ zum Beispiel. Es braucht (pop-)kulturelle Vorbildung, um da mehr zu verstehen

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Präsentiert wird vermeintlich neutral, ohne Kategorien, ohne Hierarchien. Nur, es geht ja niemals ohne Wertung, schon gar nicht im Museum. Was betrachtet man hier eigentlich? Ist das Kunst oder Promomaterial? Entziehen kann man sich dieser Frage nicht, schon gar nicht, wenn man „Gangnam Style“ aus dem Kontext von Handybildschirmen und Tanzchoreografien in der Youtube-Warteschleife reißt und auf eine Riesenleinwand in einer Museumshalle projiziert. Da wird überhöht, man macht was mit dem Werk, man verändert den Blickwinkel.

Ein weiteres Beispiel: das Musikvideo als Gebrauchsgegenstand, als flüchtiges Produkt, das sich für die Weiterverarbeitung auseinandernehmen lässt. Unter den zehn meistgeschauten Musikvideos des Jahres 2020 befindet sich ein und derselbe Song der K-Pop-Gruppe Blackpink gleich zweimal. „How You Like That“, einmal als aufwendig ausgestatteter Kurzfilm, einmal als Tanzchoreografie zum Nachtanzen. Das Gegenteil von Museum.

Heiligt der Zweck die Mittel?

Das Musikvideo als Ort und Mittel des Tabubruchs ist eine weitere Perspektive. Einerseits kann es die Normen, Werte und Blicke der Mehrheitsgesellschaft erschüttern und die Welt voranbringen, sich andererseits aber auch in der kapitalistischen Aufmerksamkeitsökonomie aufs Vorzüglichste instrumentalisieren lassen. „WAP“ von Cardi B und Megan Thee Stallion wäre hier ein Beispiel, das in Völklingen leider ausgespart wird. Als Trost gibt es dafür den Lapdance für den Leibhaftigen von Lil Nas X in „Montero (Call Me By Your Name)“. Der ist auf großer Leinwand eine noch größere Freude.

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Der belgische Musiker Stromae, dessen ausgestelltes Video „Papaoutai“ rührend von abwesenden Vätern erzählt, hat kürzlich einen viralen Erfolg gelandet. In einer Nachrichtensendung des französischen Fernsehens glitt er nach einer Frage zu seiner Einsamkeit aus dem Interview in eine Performance seines neuen Songs „L’enfer“, in dem es explizit um Depressionen und Selbstmord geht. Ist das okay? Einem wichtigen Tabuthema Sichtbarkeit und Aufmerksamkeit verschaffen, wenn es Teil eines PR-Coups ist? Heiligt der Zweck die Mittel? Auf diese Frage lässt sich keine allgemeingültige Antwort finden.

Vielleicht spürt man sie einfach nur, jede*r für sich, die Momente, in denen alles stimmt. Auf einer Leinwand, versteckt hinter schweren Maschinen, biegen sich FKA Twigs und ihre Tänzer*innen in weitem Scope-Format um die Skulptur Fons Americanus, eine künstlerische Auseinandersetzung mit dem transatlantischen Versklavungshandel. Sie stoßen und reißen und zerren an unsichtbaren, aber nicht minder realen Seilen und Ketten. Der Kampf gegen innere Dämonen und äußere. Ein Video, das den weißen Blick völlig ausspart, die weiße Gewalt aber zeigt, wenn ein junger Schwarzer Mann an die Wand gestellt und auf den Boden gedrückt wird. Von einer unsichtbaren Macht, die sich nicht greifen und auch nicht zur Rechenschaft ziehen lässt.

Was ist das Musikvideo heute? Kunstwerk, PR-Masche, Tiktok-Futter, politisches Werkzeug? Die einfache, unbefriedigende und doch gar nicht so unterkomplexe Antwort ist: alles gleichzeitig. Ganz abhängig vom eigenen Blickwinkel, in dem man zum Musikvideo steht.

Julian Dörr

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