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Momente der Ruhe. Die von Andrea Palladio (1508 - 1580) erbaute Kirche San Giorgio Maggiore auf der gleichnamigen Insel im Süden von Venedig.

© ANDREAS ENGELHARDT/dpa

Stille Zeit (4): Zwischen Stein und Wasser

Die Feiertage zwischen den Jahren mögen von Festen und Turbulenzen heimgesucht werden, man nennt sie trotzdem die stille Zeit. Bis Silvester erkunden wir Phänomene der Stille. Diesmal in Venedig.

"Ich liege im Fenster und atme voll und tief, höre das leise Gleiten einer unsichtbaren Frachtbarke und das leise Plaudern von zwei unsichtbaren Ruderern und sehe den schmalen, lichten Himmel über den harten Umrissen der flachen Dächer glänzen. Auf diese Stunde habe ich wochenlang gewartet, auf diese Stille zwischen Stein und Wasser, auf diese milde, satte Luft, auf dieses milde, schüchterne Heimatgefühl der Weltferne und des Ausruhens. Das ist Venedig!“ So klingt Hermann Hesses Liebeserklärung an die Lagunenstadt. Und selbst heute in Zeiten des Massentourismus spürt der Besucher, dass hier akustisch alles anders ist.

Hier, wo kein Verkehr rauscht, sondern nur das Wasser, kann man das Hören neu lernen. Denn die meisten Geräuschquellen kommen aus dem Off. Irritierend für Menschen, die es sich angewöhnt haben, mit den Augen zu hören. Optik ist alles, das Sehen der immer und überall dominierende Sinn im Dauerfeuer der Reizüberflutung. Natürlich auch in Venedig, angesichts der Palazzi am Canal Grande, der prächtigen Kirchenportale und unerwartet im Häusermeer sich öffnenden Plätze. Nur der gewohnte urbane Soundtrack, der fehlt eben.

Die Gondel als das Instrument der Stille

Um wie viel extremer müssen das die Reisenden aus unmotorisierten Zeiten empfunden haben. Hufeisen und metallbeschlagene Räder machten ja auf Kopfsteinpflaster noch deutlich mehr Radau als Autos auf Asphalt. Himmlisch muss ihnen die Stille Venedigs vorgekommen sein. Auf verzaubernde Art verrückt, so wie die Idee, eine Stadt ins Wasser zu bauen.

Und erst die faszinierende Art, sich fortzubewegen: „Wie von der innersten Natur Venedigs ist dieses schwarze, schlanke Schiff hervorgebracht, ein Geschöpf, ein Wesen, unter den Dingen nur noch mit einem Musikinstrument zu vergleichen“, raunt Rainer Maria Rilke. „Die Gondel ist vielleicht das Instrument der Stille, der Gondolier steht wie ein Vorzeichen da, wie der Violinschlüssel, am Zeilenanfang einer Bewegung, die eine Musik der Lautlosigkeit und des Schweigens ist in unendlichen Abwandlungen und Steigerungen.“

Der venezianische Moment

Natürlich war Venedig immer auch eine Metropole klingender Musik, hier wirkte der furchtbar fruchtbare Vivaldi, hier kam die Oper schon kurz nach ihrer Erfindung zur ersten großen Blüte. Die Kloster-, Konzert- und Theatersäle füllten sich aber auch aus dem schlichten Grund, dass sich die wohlhabenden Bewohner der Inseln ja mit anderen standesgemäßen Vergnügungen nicht ablenken konnten, weder mit Ausritten noch mit Jagden, ja nicht einmal mit Promenaden im Park.

Anders als man meinen könnte, spielt die Stille in der Musik durchaus eine gewichtige Rolle. Wenn sie aber nach dem Schlussapplaus wieder hinaustraten auf die Gassen, noch ganz erfüllt von der Macht der Töne, dann war sie wieder da, die Stille. Umfing sie wie ein Mantel, weich, anschmiegsam. Wer Glück hat, wer den Menschenströmen geschickt ausweicht, über eine Brücke, dann zweimal rechts herum, einmal links, der kann den Zauber der absoluten Abwesenheit von akustischer Luftverschmutzung immer noch erleben. Diesen venezianischen Moment.

Bisher erschienen: „Stille Nacht“ und die Stille des Schnees (24.12.), die Stille in der Poesie (27.12.), das Stillleben (28.12.)

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