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Blut und Rosen. Jeanne d’Arc und der Massenmörder Gilles de Rais geben sich ein Stelldichein . Foto: AFP

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Kultur: Zwischen Tag und Albtraum

Von extremen Menschen: Antike Tragödie, mittelalterliche Helden, Trash-Kultur beim 65. Festival in Avignon

Die Kult-Inszenierung des diesjährigen Festivals von Avignon beginnt im Cloître des Carmes als Mitmachtheater. Noch während das Publikum die Ränge im Innenhof des mittelalterlichen Klosters betritt, ruft ein Schauspieler sie auf die Bühne. Einige folgen der Einladung, tanzen, klatschen und singen. Die sehr freie Hamlet-Bearbeitung des 30-jährigen Festivalneulings Vincent Macaigne beginnt gut gelaunt wie ein Kindergeburtstag. Aber dann wird dreieinhalb Stunden lang eine rekordverdächtige Menge Theaterblut verspritzt und vergossen, verfolgen die Zuschauer der ersten drei Reihen unter Plastikplanen das Plantschen im Matschwasser, wird unglaublich viel Bühnennebel produziert, richtet sich zweimal eine gewaltige Plastikburg auf und sinkt wieder in sich zusammen.

Vor allem aber wird gebrüllt und gepöbelt wie noch nie auf französischen Bühnen, auch zwischen Schauspielern, Regisseur und Bühnentechnikern. Macaignes „Au moins j’aurais laissé un beau cadavre“ (zu deutsch etwa „Wenigstens bleibt von mir eine schöne Leiche“) ist Blut- und Hodentheater, Provokation, Theater der Grausamkeit, Publikumsbeschimpfung und Alberei in einem. Und für viele ein Befreiungsschlag aus dem Dämmerzustand eines routinierten Kulturbetriebs. Tatsächlich hat jetzt auch Frankreich seine eigene, genuin französische Form des Trashs entdeckt. Der funktioniert anders als bei Frank Castorf, wo entlang dramaturgisch unterfütterter Diskurse Welten zerbrechen oder beim einmal so apostrophierten „Ekeltheater“ des Jürgen Gosch, das sich strengen ästhetischen Regeln unterwarf.

Bei Macaigne ist grundsätzlich alles erlaubt, wenn nur der Knalleffekt auf die Melancholie des Individuums hinausläuft, auf einen romantischen Weltekel, auf den Frust in der Spaßgesellschaft, die Trauer über die Vergänglichkeit allen Lebens. All das sind letztlich Geschichten über verletzten Narzissmus. Hunderte von Schülern hat das Festival eingeladen, um sie erstmalig mit dem Theater in Berührung zu bringen. Im Karmeliterkloster konnten sie eines entdecken, das sie nicht überfordert: Es ist immer was los, und auf die Belästigung durch Hochsprache wird auch verzichtet.

Der libanesisch-kanadische Autor und Regisseur Wajdi Mouawad will in der Welt der Tragödie die Regression der Sprache aufs Schulhofniveau nicht mitmachen und hat für sein groß angelegtes Sophokles-Projekt eine neue Übersetzung anfertigen lassen. Der Regisseur plant, sämtliche Sophokles-Tragödien zu inszenieren und hat im ersten Schritt „Die Trachinierinnen“, „Antigone“ und „Elektra“ zum Triptychon „Des Femmes“ zusammengebracht. Nach fast sieben Stunden, um vier Uhr dreißig, entlässt er sein Publikum in den kalten provenzalischen Morgen und in die große Ratlosigkeit: Denn sein Schauspielensemble ist nicht ganz auf der Höhe des ehrgeizigen Projekts. Das Bühnenbild tut ein Übriges. Auf einem engen, von viel Technik umgebenden Karree will sich der Text nicht entfalten. Da ist viel hohler Gestus, auch simple Regie, statuarisches Aufsagetheater. In Erinnerung aber bleibt Bertrand Cantat, der die Texte des Chores vertont hatte und mit seiner betörend rauen Stimme interpretiert.

Mit Cantats Engagement für das Projekt des Freundes Mouawad kommt die Tragödie des Lebens in der Tragödie des Theaters, geraten die Gepflogenheiten heutiger Mediendebatten in die Dramaturgie ewiger Theaterwerte. Der Musiker ist eben jener Bertrand Cantat, der im Jahre 2003 seiner Freundin Marie Trintignant unter Drogeneinfluss tödliche Schläge versetzt, später einen Selbstmordversuch unternommen hat und auch seine Ex-Frau mit deren Selbstmord verlor. Der berühmte Vater Maries, Jean-Louis Trintignant, hatte auf die Ankündigung des Auftritts des Rock-Poeten mit Empörung reagiert, woraufhin Cantat in Avignon auf eine Mitwirkung life verzichtete. In Kanada, wo ebenfalls Aufführungen geplant sind, hat die Frage der Mitwirkung des 2007 vorzeitig aus der Haft entlassenen Sängers der inzwischen aufgelösten Gruppe „Noir Désir“ eine regelrechte Kulturdebatte ausgelöst. Mit Mouawads Entscheidung, einen Mann, der sein Leben nur noch als Tragödie empfinden kann, in die Geschichte einer tragischen Eifersucht (Trachinierinnen), einer grausigen Rachegeschichten (Elektra) und einer erbitterten Rechtsdebatte (Antigone) einzubinden, ist sein Theater in die Gesetzmäßigkeiten einer zeitgenössischen Entrüstungskultur geraten, die ihre eigene Urteile fällt. Für sie ist Cantat ein Mörder und auf immer zum Symbol brutaler Männergewalt geworden. Mouawads langer Theaterabend aber kreist traurig um einen abwesenden Künstler, der realen Tragödiengestalt und eigentlichen Seele der Theaternacht.

Nachdem es mit vielerlei Geplänkel, Eitelkeiten und Nebensächlichem begonnen hatte, kam Avignon dann auch mit anderen Geschichten vom Lieben und Sterben auf den Punkt. Rund vierhundert Kinder soll Gilles de Rais umgebracht haben, nachdem er sich nach dem Krieg gegen die Engländer und der Hinrichtung der Jeanne d’Arc in Jahre 1431 auf seine Ländereien zurückgezogen hatte. Den Gewährsmann der Jungfrau von Orléans und Waffenbruder der legendären französischen Nationalheldin hat Tom Lanoye der etablierten Theaterheldin zur Seite gestellt.

„Bloed & Rozen – Het Lied van Jeanne en Gilles“ erzählt in zwei Teilen die Geschichte von der Jungfrau und dem Ritter, dem Engel und dem Teufel, von „Rosen und Blut“. Regisseur Guy Cassiers arbeitet wieder mit seiner unnachahmlichen Videotechnik: Er projiziert Innenräume des Papstpalastes auf die Bühne und montiert diese als Hintergrund für die auf der Bühne videografierten Szenen. Das Ergebnis erscheint groß auf der gewaltigen Fassade der päpstlichen Trutzburg. Die beiden Extremmenschen Jeanne und Gilles interpretieren Abke Haring und Johan Leysen meisterhaft und hoch konzentriert. Je unterschiedlich geraten sie ins Spiel der Mächte und fordern einen Klerus heraus, der die Kirchenspaltung gerade erst überwunden hat, für die Avignon, die Stadt der Gegenpäpste, steht.

Selten haben unterschiedliche Künstler in einer Festivalausgabe den Papstpalast so konsequent in seiner historischen Entstehungszeit verortet und ihre Inszenierung musikalisch mit Polyphonien begleitet, die aus dem 14. oder 15. Jahrhundert stammen oder von dort ihre Struktur beziehen. Das Genter Collegium Vocale begleitet das Geschehen in „Bloed en Rozen“; geradezu in die Choreografie einbezogen ist Björn Schmelzers Antwerpener Vokalensemble Graindelavoix mit ihrer Ars Subtilior in Anne Teresa De Keersmakers „Cesena“.

Die neue Arbeit der Choreografin war zu ungewöhnlicher Stunde zu sehen: In der Morgendämmerung ab 5.30 Uhr, zwischen Tag und Traum, zwischen Ahnen und Sehen. „Cesena“ geht auf eine Geschichte aus der Zeit der Gegenpäpste aus dem Jahre 1377 zurück. Aber der Papstpalast erlebte auch eine Fusion aus Pop, Rock und Poesie: Jean Genets Gedichte präsentierte Jeanne Moreau zusammen mit dem Chansonnier Etienne Daho im Ehrenhof. Mit unnachahmlicher Stimme sprach die Moreau die frühen Gedichte des einstigen Freundes, zu den bitter-süßen Harmonien des Etienne Daho. Eine einstündige Hommage, sprachlich und musikalisch hoch konzentriert.

Eberhard Spreng

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