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Das Kälteschutzprotein RMB3 schützt Nervenzellen vor dem Absterben. Wie es gebildet wird, entschlüsselten nun Florian Heyd und sein Team.

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Künstliche Unterkühlung: Wie die Illusion von Kälte das Gehirn schützen könnte

Mit einem vielversprechenden Forschungsansatz will Florian Heyd Nervenzellen vor dem krankheitsbedingten Abbau schützen.

Von Catarina Pietschmann

Die Evolution ist in vielem einfach genial. Selbst darin, ihr „Werk“ vor Zerstörung zu schützen. Sinkt die Körpertemperatur eines Menschen um zwei oder mehr Grad, wird im Gehirn das Kälteschutzprotein RBM3 vermehrt gebildet – Nervenzellen, die Neuronen, werden vor dem Absterben geschützt. Notfallmediziner kühlen deshalb Menschen, die nach Unfällen mit schweren Hirnverletzungen eingeliefert werden, für mehrere Stunden auf 34 bis 35 Grad Celsius ab, um den Verlust von Nervengewebe zu minimieren. Auch bei Schlaganfällen und Herzinfarkten wird so verfahren.

Die Unterkühlung selbst kann jedoch starke Nebenwirkungen haben – von Blutgerinnungsstörungen über Lungenentzündungen bis hin zu Herzrhythmusstörungen. „Deshalb suchte man schon lange einen Weg, auch ohne kontrollierte Hypothermie die Bildung von RMB3 anzukurbeln“, sagt Florian Heyd, Professor für RNA-Biochemie an der Freien Universität Berlin. Dass Kälte „mehr RMB3 macht“, war bekannt – aber nicht wie. Florian Heyds Team konnte nun den Mechanismus aufklären.

Damit RMB3 gebildet wird, muss das entsprechende Gen von einer Messenger-RNA (mRNA) abgelesen werden. Ist die Körpertemperatur des Menschen normal, wird ein Stoppcode in die mRNA eingebaut. Die Ribonukleinsäue wird zwar gebildet, aber die Nervenzelle, in der das passiert, baut sie gleich wieder ab, wenn sie erkennt, dass sie keinen Kälteschutz benötigt.

Der mRNA-Abbau lässt sich aber verhindern, indem man die Stoppsequenz mit einem simplen Trick „maskiert“. Anders als die DNA, die doppelsträngig ist und aus komplementären Basenpaaren besteht, sind RNAs grundsätzlich einzelsträngig. „Wird ein auf den Stoppcode zugeschnittener, ganz kurzer komplementärer Einzelstrang – ein sogenanntes Antisense-Oligonucleotide, kurz ASO – dazugegeben, bindet er gemäß der klassischen Watson-Crick-Basenpaarung an der RNA und macht diesen Abschnitt zum Doppelstrang“, erklärt der Forscher. Dieser Bereich wird nicht mehr in die reife mRNA eingebaut, und die RBM3-Produktion läuft nun an – ganz unabhängig von der Körpertemperatur.

Welchen unglaublichen Effekt das hat, konnte Heyds Team in Kooperation mit dem britischen Dementia Research Institute in Cambridge an Mäusen zeigen, die an einer aggressiven neurodegenerativen Erkrankung leiden. Sie wurden mit Prionen infiziert, ähnlich denen, die in den 1990er-Jahren Rindern und Schafen regelrecht das Gehirn zerfraßen und den „Rinderwahnsinn“ auslösten. Auch das Hirn der Nager wird dadurch so stark zerstört, dass die Tiere innerhalb weniger Monate sterben.

Drei Wochen nach der Infektion wurde der Hälfte der Mäuse eine Einzeldosis ASO in das Rückenmark injiziert – der anderen Hälfte nicht. Neun Wochen später untersuchten die Forschenden die Gehirne der Tiere. „Es war beeindruckend. Während es bei den unbehandelten Mäusen wie ein Schwamm durchlöchert war, sah es bei den anderen normal aus“, erläutert Florian Heyd.

Man suchte schon lange einen Weg, ohne Kälte die Bildung von RMB3 anzukurbeln.

Florian Heyd, Professor für Biochemie, Freie Universität Berlin

Der Versuch demonstriert die enorme Nervenschutzwirkung von RBM3. Das macht Hoffnung für andere neurodegenerative Erkrankungen wie Demenz oder Parkinson. „Zwar haben wir bisher noch kein Tiermodell für Alzheimer, sind aber sehr zuversichtlich, hier in Zukunft ebenfalls eine positive Wirkung zu sehen“, sagt Florian Heyd.

Klinische Studien sind noch nicht geplant

Pharmafirmen haben das Potenzial seiner Arbeiten längst erkannt. Klinische Studien mit Alzheimer-Erkrankten seien aber vorerst nicht in Sicht. „Das Monitoring der Probanden würde sich lange hinziehen, weil sich die Krankheit meist über viele Jahre entwickelt“, sagt Florian Heyd. Doch es gibt Formen der Krankheit, die sehr schnell voranschreiten, wie die Frontotemporale Demenz. Klinische Studien würden hier deutlich schneller belastbare Ergebnisse bringen.

Nach umfangreichen Toxizitäts- und Sicherheitsstudien könnten zuerst Frühgeborene von RMB3 profitieren. Florian Heyd ist im Gespräch mit Ärztinnen und Ärzten der Neonatologie, die dringend nach Wegen suchen, die Hirne von Frühchen vor Sauerstoffmangel zu schützen, ohne sie abkühlen zu müssen. „Bei diesen Babys könnte man binnen weniger Wochen sehen, ob der Nervenschutz funktioniert“, sagt der Biochemiker.

Sollten sich die Ergebnisse der Prionen-Mäuse dann auch bei Demenz bestätigen, ließe sich der Hirnabbau bereits in der Frühphase stoppen. Das wäre bahnbrechend für Menschen, in deren Familien die Veranlagung für eine Alzheimer-Demenz vererbt wird. Mit einer prophylaktischen ASO-Therapie könnte sogar der Ausbruch der Krankheit verhindert oder zumindest verzögert werden.

Noch immer ist unklar, wie Morbus Alzheimer tatsächlich entsteht. Während die einen glauben, abnorm verdrillte Tau-Proteine seien dafür verantwortlich, sehen andere die Ursache in der Ablagerung von Beta-Amyloid-Peptiden, dem Hauptbestandteil der „senilen Plaque“. Letztlich führt beides zum Absterben der Neuronen. Aber was, wenn RBM3 – ganz unabhängig von der Genese der Erkrankung – das Nervensterben stoppen kann? „Die RMB3-Forschung wird die wissenschaftliche Diskussion um Alzheimer auf jeden Fall wieder neu beleben“, ist Florian Heyd sicher.

An Antisense-Oligonukleotiden wird bereits seit den 1970ern geforscht. Das erste Medikament wurde 2016 zugelassen – gegen Spinale Muskelatrophie (SMA), eine Erkrankung, die bei Kindern zunehmend die Nerven für Muskelbewegungen schädigt. Dadurch wurde SMA erstmals heilbar. Die jungen Patienten benötigen lediglich alle drei Monate eine Spritze ins Rückenmark. Von dort finden die ASO allein zu den Nervenzellen, verbleiben dort und tun über viele Wochen ihren Dienst. Florian Heyd denkt, dass diese Therapieform auch bei vielen anderen Erkrankungen eine gute Option wäre und es bald weitere Zulassungen geben wird.

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