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Max Stock

© Rainer Ahrendt

Nachruf auf Max Stock: Auch der Untergang ist eine Stilfrage

Er glaubte nicht an den Tod. Schon weil er sich nicht vorstellen konnte, einmal aufzuhören zu zeichnen und zu trinken

Von Kerstin Decker

Dass sie ihn hier begraben würden, hätte er nie gedacht. Auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof! Neben all den großen Geistern. Aber was soll er nun reden mit Fichte, Hegel, Brecht und den anderen, so in der letzten aller Nachbarschaften von Ewigkeit zu Ewigkeit?

„Das Wirkliche ist vernünftig und das Vernünftige ist wirklich“, hatte Hegel gesagt. Um solche nicht ganz nüchternen Sätze zu verstehen, studieren manche Philosophie. Max Stock hatte dieserart Umwege niemals nötig, er begriff sie jeden Abend neu. Was ist denn eine ausgesuchte Trinker-Runde anderes als ein wohlbereiteter Ort zum Empfang des Weltgeistes? Sollen die anderen in ihren Gräbern nun ruhig auch seine Thesen diskutieren: „Überall wo wir nichts zu suchen haben, haben wir etwas zu tun.“ Sehr schwer zu widerlegen. Oder: „Mehr als die Linie des Horizonts haben wir nicht!“

Garantiert weiß hier keiner so viel über die Linie und den Horizont wie er, der Zeichner. Ein ganzes Universum schaffen aus einem dünnen Strich! Manchmal hat es ihn selbst erstaunt, wie viel Welt er darin einfangen konnte.

Da stimmt etwas nicht mit Ihren Werten!

Aber etwas übereilt war das alles schon. Was sollte er auf einem Friedhof? Max Stock glaubte nicht an den Tod. Schon weil er sich nicht vorstellen konnte, einmal aufzuhören zu zeichnen und zu trinken. Da stimmt etwas nicht mit Ihren Werten!, hatten sie ihm gesagt, als er ins Krankenhaus kam. Er nahm es nicht sehr ernst. Seine Werte hatten noch nie auf seiner Seite gestanden.

Linie und Horizont. Zum ersten Mal sah er beide in überzeugender Einheit in Hohenahlsdorf, das liegt bei Jüterbog, da ist er geboren. Streng genommen gibt es in Hohenahlsdorf bei Jüterbog nicht viel mehr als Linie und Horizont. Er nahm die Landschaft seiner Kindheit als Vorbild für die Kunst: Das Meiste kann man weglassen!

Aber Rüben gab es. Wenn das Bauernkind Max an seine Mutter dachte, sah er sie immer, den Rücken gebückt, beim Rübenverziehen. Weil aus einem einzigen Rübensamenkorn gleich mehrere Pflanzen wuchsen, musste man etwas später wieder durch die Reihen gehen und die nicht ganz so kräftigen ausreißen. Und das sollte auch seine Zukunft sein? Zumal: Beim Rübenverziehen sieht man den Horizont nicht. Wenn der Junge zeichnete und malte, sah er ihn sogar doppelt: Auf dem Blatt Papier und wenn er die Augen hob.

Alle Kinder zeichnen. Nur hören die meisten Menschen damit wieder auf, wenn sie umziehen an den Ort, den sie „die Wirklichkeit“ nennen. Er würde dort nie ganz ankommen. Aus einem Bauernsohn wird ein Bauer, das war nie anders. Ich werde Maler!, lautete seine frühe Ansage. Anstreicher, verstanden die Eltern.

Kultursäle der Roten Armee

Der Absolvent der Maler- und Anstreicherlehre Max Stock hatte Glück. Rund um Jüterbog war die Rote Armee stationiert und suchte immer jemanden, der ihre Kultursäle ausmalte. Oktoberrevolution. Lenin. Panzer. Siegeslosungen. Ohne eine zu allem entschlossene Linie war hier nichts auszurichten. Das Format schreckte ihn nicht. Wahrscheinlich wegen der Siegeslosungen schloss er etwas später noch eine Lehre als Schriftenmaler an.

Und sollte er nicht auch Bücher illustrieren und Plakate malen? 1968 nahm ihn die Fachschule für Werbung und Gestaltung in Berlin-Schöneweide. Die erste Nacht in Berlin blieb er zur Sicherheit auf dem Bahnhof. Vielleicht, um gleich wieder abfahren zu können. Die Stadt erschreckte ihn. Hier stand viel zu viel rum. Und kein Mensch konnte den Horizont sehen. Er blieb trotzdem. Denn von etwas anderem gab es viel mehr als in Jüterbog: Gesichter. Täglich neue Gesichter. Er würde nie mehr aufhören mit dem Gesichter-Zeichnen, fast immer Frauen-Gesichter. Auch das ist ein Horizont, und oft entwarf er ihn wie aus einer einzigen Linie.

Doch sein erster großer Erfolg war ein Fisch. Die Warschauer Plakat-Biennale hatte das Thema „Wasser ist Leben“ ausgeschrieben: Ein Fisch steht senkrecht im Wasser und schnappt nach Luft. Seine Unter-Wasser-Hälfte ist nur noch eine Gräte. Gemeinsam mit Dietrich Schade bekam er 1974 eine Unesco-Goldmedaille dafür.

Stock illustrierte Kinderbücher, entwarf Plakate, bemalte ganze Häusergiebel und schaute in unzählige Gesichter. Manche Menschen sind wie ein Medium. Wer brachte denn seine Linien zu Papier? Die Antwort „Ich war das“ wäre eine Lüge gewesen. Es zeichnete durch ihn hindurch. So wie der Durst durch ihn trank. Und woher diese Sehnsucht nach Paris? Natürlich, die Maler, die er liebte, waren alle nach Paris gegangen: Matisse, Picasso, Modigliani, Jawlensky.

Und dann begann das große Ausreisen. Die Konsumwelt des Westens war ihm egal. „Wir müssen dankbar sein für das, was wir nicht besitzen dürfen“, glaubte er. Aber führte der Weg nach Paris nicht über West-Berlin? Im März 1984 durften plötzlich viele fahren, die schon lange gewartet hatten, auch Max Stock, seine Frau, die Autorin Doris Paschiller, und deren Tochter Ellen. Immer wieder hat er beide gezeichnet. Freunde kamen mit bis zur Grenze, es war eine sehr stille Fahrt mit dem 57er Bus zum Bahnhof Friedrichstraße. Zu spät für Banalitäten, bis Stock das Schweigen unterbrach: „Nur weil ich einmal nach Paris wollte, bin ich jetzt ein Leben lang unterwegs.“

Kreuzberg kam ihm vor, als hätte es auf ihn gewartet mitsamt seiner Nächte; er mietete ein Atelier in einer Fabriketage am Mehringdamm und war doch meistens unterwegs: Gesichter fangen. Das blieb auch so, als er 1996 nach Prenzlauer Berg zurückkehrte mit dem winzigen Weltlokal „Lampion“ am Kollwitzplatz als Kommandozentrale. Die Gäste teilten die gleiche verspielte Verzweiflung. Auch der Untergang ist eine Stilfrage. Mit seinem Freund, dem Künstler und Trinker Manfred „Graf“ Kiedorf, dem Schöpfer figürlicher Miniatur-Rokoko-Reiche mitsamt Rechnungshof und eigener Zeitrechnung, konnte er nächtelang disputieren. Kiedorf: „Ameisen kennen keine privaten Interessen.“ Stock: „Wir sind alle vom Kurzwellenbetrieb erzogen.“

Wie die meisten Gäste des „Lampion“ konnte der Zeichner nur in Welten leben, die er selbst erschaffen hatte. Viele Museen haben seine Bilder gekauft. Während er nach außen immer rauer schien, gerieten seine Frauenporträts zarter, modernen Madonnenbildern gleich. Sein Körper zerfiel, aber die Präzision, die Kraft seiner Horizont-Linie blieb.

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