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© Simona Ghizzon/Laif

Stadt im Wandel: Die Narben Berlins

Einst bestimmte Weite die Stadt. Jetzt werden die letzten Brachen bebaut. Die Berliner Schriftstellerin Jenny Erpenbeck über die Zeit der Leerstellen, die nur eine Pause war.

In jeder Stadt gibt es ja Plätze, auf denen das Pflaster Lücken hat, wo die Büsche stinken, wo Leute ihre alten Kleider hinschmeißen, Betrunkene leere Flaschen zerschlagen, Styropor zerbricht, Blech zerdrückt wird, Hunde pinkeln, Plakate von der Pappe gerissen werden. In Berlin gab es seit 1945 besonders viele solcher Orte: wüste Stätten, oft waren es Ecken, an denen nicht einmal ein Kiosk wuchs. Der Himmel über Berlin war immer sehr weit, eben weil unten auf der Berliner Erde Bombenlücken der Weite des Himmels entsprachen.

Vor rund fünfundzwanzig Jahren sah ich von meinem Kinderzimmer aus über einen Spielplatz hinweg, über Baracken hinweg, über einen Lagerplatz für Baumaterialien hinweg: bis auf eine kahle Brandmauer eines einzelnen, stehen gebliebenen Hauses kurz vor dem Westen. Zwischen mir und dem Sonnenuntergang lagen damals gut fünfhundert Meter, der Horizont war eine schwarze Linie hoch oben, er hatte Schornsteine und Antennen, und zur Straße hin fiel das Dach schräg ab. Auf die Entfernung sah das im Gegenlicht wie ein Scherenschnitt aus, und nirgendwo anders gab es, wenn die Sonne unterging, solche hoch aufragenden, großstädtischen Scherenschnitte wie in Berlin.

Auf dem Mauerstreifen bei mir um die Ecke habe ich noch vor zwei Jahren einmal die Ziegen des Zirkus Aron wieder eingefangen, die aus der Tierschau entwichen waren, um auf dem Gelände zu grasen, gelegentlich habe ich dort auch Pferde eines Fuhrunternehmens weiden sehen, und von Zeit zu Zeit habe ich, wo früher die Grenztruppen patrouillierten, Wiesenblumen gepflückt.

In den fünfziger Jahren gab es einmal Pläne, die Friedrichstraße zu verbreitern, wohl deshalb hatte man die freien Flächen nicht wieder bebaut, Brunnen gab es stattdessen, an der Ecke Unter den Linden, und Blumenbeete.

Inzwischen ist das Sonnenuntergangspanorama meiner Kindheit längst von einem Hochhaus verstellt, das die Straße dunkel macht und den Blick nach Westen bis zur Unkenntlichkeit verkürzt. Inzwischen ist bei mir um die Ecke der Mauerstreifen stückweise abgezäunt: Auf einem Stück ist offensichtlich zur Bauvorbereitung ein Graben ausgehoben, am Grund des Grabens stehen die Kellerziegel der früheren Häuser aus der Erde, am Zaun wirbt ein Unternehmen für „Sprengmittelentfernung“; ein anderes Stück Pferde- und Ziegenhandel hat sich in einen Gebrauchtwagenhandel verwandelt, auf grauem Kies stehen zerbeulte und nicht zerbeulte Autos; und auf dem dritten Stück Unkraut wohnen schon seit einem Jahr bis in den fünften Stock hinauf Leute in Neubauwohnungen mit großen Fenstern.

Die Friedrichstraße war bis Kriegsende schmal und ist jetzt wieder schmal geworden, sie war dicht bebaut mit Geschäften und ist wieder dicht bebaut mit Geschäften, inzwischen soll man an der Ecke Friedrichstraße/Unter den Linden an genau der Stelle, wo einmal der Brunnen stand, Luxuslimousinen kaufen, damit die Ladenmiete wieder hereingebracht wird, vor dem Krieg waren Häuser aus Sandstein mit Säulen modern, und jetzt sind wieder Häuser aus Sandstein mit Säulen modern, es stellt sich also heraus, dass die Zeit der Leerstellen nur eine Pause war.

Ich habe einmal gehört, dass, wenn die Unordnung innerhalb eines Systems sich verringert, sie sich zwangsläufig in einem benachbarten System vergrößert. Und da die Unordnung ja nur an Stellen entstehen kann, die frei sind, würde mich interessieren, wie Leere aussieht, wenn sie wandert. Die Bewohner von Berlin-Mitte jedenfalls müssen jetzt sehen, wie sie damit, dass alles da ist und nichts fehlt, durchkommen. Und Morgenstern? Morgenstern hat vielleicht auch in Mitte gewohnt. Es war einmal ein Lattenzaun, / mit Zwischenraum, hindurchzuschaun. / Ein Architekt, der dieses sah, / stand eines Abends plötzlich da – / und nahm den Zwischenraum heraus / und baute draus ein großes Haus. / Der Zaun indessen stand ganz dumm, / mit Latten ohne was herum. / Ein Anblick gräßlich und gemein. / Drum zog ihn der Senat auch ein. / Der Architekt jedenfalls entfloh / nach Afri-od-Ameriko.

- Jenny Erpenbeck ist Schriftstellerin und lebt in Berlin. Am 7. September erscheint im Galiani Verlag ihr neues Buch „Dinge, die verschwinden“, dem wir diesen Text entnahmen. Am 10.9, 20 Uhr, liest Erpenbeck erstmals aus dem Buch, Backfabrik, Saarbrücker Str. 36. 

Jenny Erpenbeck

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