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Medien: Das inszenierte Leben

Scripted-Reality-Sendungen sind beliebt. Doch Kritiker warnen vor dem darin gezeigten Weltbild.

Auf das Nachmittagsprogramm von RTL ist seit Jahren Verlass. Pünktlich um 14 Uhr beginnt eine fast vierstündige Abfolge von Sendungen, in denen alles echt aussehen soll, und in denen doch alles nur gespielt ist. Es geht um Teenager am Rand zur Alkoholsucht, um verlassene Mütter und eifersüchtige Töchter, um Mobbing unter Schulkameraden. „Mitten im Leben“ lautet der Titel eines dieser Scripted-Reality-Formate, die täglich ein Millionenpublikum erreichen.

Hier sind keine Stars zu sehen. Stattdessen übernehmen Laiendarsteller die Hauptrollen. Die Geschichten sind einfach und eingängig. Obwohl alles frei erfunden ist und die Handlung nach einem Drehbuch inszeniert wird, erfreuen sich die umstrittenen Sendungen großer Beliebtheit. „Wir sind sehr zufrieden mit unserem Erfolg“, sagt Jürgen Erdmann, Chefredakteur der Produktionsfirma Norddeich TV in Köln. Gemeinsam mit einem Team von rund 50 Mitarbeitern arbeitet er täglich an neuen Folgen der Drehbuchrealität. „Ich nenne es nicht Scripted Reality, sondern Scripted Entertainment“, korrigiert Erdmann. Schließlich sei den Zuschauern sehr wohl klar, dass es sich um reine Show handele. Das ist jedoch fraglich. Erst kürzlich hat die Medienwissenschaftlerin Maya Götz in einer Studie festgestellt, dass gerade Kinder oft nicht in der Lage seien zu erkennen, dass die Sendungen gestellt sind.

Gefilmt werden die Serien im „Dokustyle“ – zwischen den Szenen kommentieren die Protagonisten die Handlung, als hätte man sie interviewt. Fast wie in den altmodischen Dokumentationen, die nachts im Ersten laufen. Die gestellten Szenen werden unter enormem Zeitdruck produziert. Alles muss schnell und vor allem billig sein. „Für eine Folge mit 45 Minuten Länge drehen wir maximal vier Tage“, rechnet Erdmann vor. Seine Firma produziert wie am Fließband, fünf Tage die Woche wird an mehreren Folgen parallel gearbeitet.

Laut einer Erhebung des NDR aus dem Jahr 2010 kosten 45 Minuten Scripted Reality nur noch 40 000 Euro – fix und sendefertig. Ein Schnäppchen für die großen TV-Konzerne, die gleichzeitig von verlässlichen Werbeeinnahmen am Nachmittag profitieren. Für die Laienprotagonisten bleibt nicht viel übrig. Der Begriff „Honorar“ wurde branchenweit von der „Aufwandsentschädigung“ verdrängt. „Es wird immer billiger, alles muss schneller gehen“, berichtet Imke Arntjen, die in Berlin eine Castingagentur betreibt und bundesweit Produktionsfirmen mit passgenauen Darstellern versorgt. Neulich wollte eine große Firma einen Darsteller für 100 Euro Gage anheuern – zu wenig für Arntjen, die auf Provisionsbasis vermittelt. Sie kann die Sender verstehen: „Scripted Reality hat viele Vorteile. Die Menschen spielen ihre Rolle, kommen selbst zum Drehort. Man spart Produktionskosten, weil man keine echten Protagonisten suchen muss.“ Es sei schwierig geworden, noch Freiwillige zu finden.

Medienwissenschaftler wundern sich über den andauernden Erfolg der Sendungsformate, die auf Überschaubarkeit setzen und immer mit einem Happy End aufwarten. Offensichtlich wirkten die täglich wiederkehrenden Muster beruhigend auf junge Zuschauer, wie Wissenschaftlerin Maya Götz in der Studie festgestellt hat: „Sie genießen die Erzählungen, bei denen sich am Ende alle Probleme verlässlich zum Guten wenden – und das innerhalb kürzester Zeit.“ Auch ältere Zuschauer würden die Fakeinszenierungen faszinieren, weil sie ihnen die Möglichkeit böten, auf andere verächtlich hinabzuschauen.

Jugendschützer bemängeln bereits seit Jahren, dass „Mitten im Leben“ und ähnliche Sendungen ein falsches Weltbild vermitteln. Bislang aber hat sich an der Machart der Nachmittagsprogramme auf RTL nichts geändert. Nils Glück (epd)

Nils Glück (epd)

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