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Medien: Der Mann, der Raimund Pretzel hieß

3 sat zeigt vier deutsche Lebensläufe. Den Anfang macht der Publizist Sebastian Haffner

Mit einer Zigarre in der Hand steht Sebastian Haffner 1965 vor den Fernsehzuschauern und zieht derb über Franz Josef Strauß her. Der SFB hatte dem streitbaren Publizisten mit dem „Berliner Fenster“ gerade eine eigene Kolumne eingerichtet. Etwas irritiert an diesem Bild. Wie auf den meisten bekannten Fotos schaut Haffner mit weit geöffneten Augen in die Kamera. Die Filmaufnahme offenbart: Er blinzelt nicht, sein Blick ruht starr und durchdringend auf dem Beobachter. Das muss jener Blick sein, von dem sein Sohn später sagen wird, er habe ihn auch auf Dinge gerichtet, die für ihn selbst unangenehm waren. Auf Dinge, bei denen die meisten Deutschen weggeschaut hätten.

Mit Sebastian Haffner beginnt die vierteilige Reihe „Deutsche Lebensläufe“, die von heute an auf 3 sat gezeigt wird. Sonntags zur Primetime werden Deutsche porträtiert, die an der Geschichte des 20. Jahrhunderts mitgeschrieben haben. Unaufgeregt geben sich die Produktionen von SWR, SFB und ORF, ein ausgewogenes Bild wollen sie vermitteln. Das ist mitunter gar nicht so einfach. Immerhin stehen neben Haffner auch der Dramatiker Arnolt Bronnen, der Studentenführer Rudi Dutschke und der Philosoph Martin Heidegger auf dem Programm. Dennoch ist es gelungen.

Dutschke etwa gerät keinesfalls zur linken Märtyrerlegende. Aber auch das in den 60ern von der Springer-Presse lancierte Gruselbild des unrasierten jungen Mannes, der mit Lederjacke und strähnigen Haaren in die bürgerlichen Fleischtöpfe spuckt, wird demontiert. Stattdessen erfährt man, dass der Sportler Rudi Dutschke 1956 mit 11,74 Metern den DDR-Jugendrekord im Kugelstoßen hielt. Oder dass gemäßigte Mitstreiter im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) Dutschke den Spitznamen „Putschke“ verpasst hatten. Ohne moralische Entrüstung kommt auch der Film über Heidegger aus. Er dokumentiert dessen Verblendung, unter den Nazis könne sein Philosophieren praktisch werden. Doch er zeichnet auch die Genese von Heideggers antiurbanem, technikfeindlichem Denken subtil nach. Spätestens wenn Sohn Hermann erzählt, er habe seinen Vater und lebenslangen Beckenbauer-Bewunderer nach dem Zweiten Weltkrieg gelegentlich zum Fußballstadion chauffiert, ist der Mythos Heidegger entzaubert.

Jeder Beitrag entwickelt eine eigene, der jeweils porträtierten Person angemessene Ästhetik. Haffner, der schillernde Publizist, erscheint vor allem im Spiegel seiner Zeitgenossen. Die Historiker Arnulf Baring und Joachim Fest, der Verleger Helmut Kindler, Marcel Reich-Ranicki, die Kinder Sarah und Oliver oder sein Biograf Uwe Soulup erinnern sich an den Mann, der die Deutschen so schonungslos über sich selbst aufgeklärt hat.

Mit bürgerlichem Namen hieß Haffner Raimund Pretzel. Erst als er 1938 nach England emigrierte und zu publizieren begann, hat er das Pseudonym angenommen, um seine Familie in Deutschland nicht zu gefährden. Haffner, weder Jude noch Kommunist und deswegen als Emigrant suspekt, wurde interniert. Dann begann sein Aufstieg zu einem der wichtigsten Journalisten des Londoner „Observer“. Sein erstes Buch „Germany: Jekyll and Hyde“ (1940) hat Churchill seinen Ministern zur Pflichtlektüre gemacht. Fast widerwillig ist Haffner, nunmehr britischer Staatsbürger, 1954 nach Berlin zurückgekehrt. Dort präsentierte sich der „Engländer“ als geharnischter Antikommunist. Ein Machtmensch und kalter Krieger, den man nicht zum Feind haben möchte. Mit der „Spiegel-Affäre“ 1962 erfolgte der Schwenk zum linksrepublikanischen Engagement. Der „Stern“-Kolumnist wird Vorreiter der „Neuen Ostpolitik“. In den 70ern dann die berühmten Bücher: „Anmerkungen zu Hitler“, „Preußen ohne Legende“. Der Mann passt in keine Schublade, er irrlichtert zwischen den politischen Fronten. Eines ist untrüglich: sein Gespür für Totalitarismen, gleich welcher Couleur.

Haffner, der mit seinen verblüffend luziden Voraussagen in „Leben eines Deutschen“ vor drei Jahren noch nach seinem Tod zum Bestseller-Autor wurde, hat das Geschichtsbild der Deutschen entscheidend mitgeprägt. Fachhistoriker haben den Branchenfremdling meist mit gemischten Gefühlen betrachtet. Woher sein Erfolg stammt, zeigt auch der Film. Kompliziertes wird bei Haffner verständlich. Was immer er sagt – Klarheit ist oberstes Gebot. Und die Lust an der Pointe, der Provokation und Übertreibung schwingt in jedem Satz mit.

„Deutsche Lebensläufe“, 3 sat, 20 Uhr 15. Es folgen: Arnolt Bronnen (17.8.), Rudi Dutschke (24.8.) und Martin Heidegger (31.8.).

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