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Medien: Die Blogger-Bilanz

Ein Jahr nach London: Was ist aus den „Bürgerjournalisten“ geworden?

Eigentlich war es wie immer nach einem Terrorangriff: Nach den Bombenanschlägen in London heute vor einem Jahr druckten weltweit Zeitungen Fotos von den Tatorten ab. Aber etwas war anders – die Menge der Bilder. Statt, wie so oft, die selben zwei, drei Motive auf den Titelseiten gab es dutzende, ach hunderte. Der Grund: Die Bilder stammten nicht von einem professionellen Fotografen, der zufällig vor Ort war, sondern von den Betroffenen selbst. Viele zückten instinktiv ihr Handy und hielten das Drama vor ihren Augen mit der integrierten Kamera fest. Seltsam, ja. Fragwürdig, vielleicht. Die Redakteure aber waren dankbar. Auf ein so großes, aufsehenerregendes und günstiges Angebot an Bildmaterial hatten sie noch nie Zugriff gehabt. Ein krisseliges Handy-Video aus einer der U-Bahnen lief erst bei den englischen Sky News, danach beim US-Sender Fox und schließlich weltweit. Britische Stationen riefen ihre Zuschauer im laufenden Programm auf, mehr Fotos und Videos einzuschicken.

Schnell machte ein neuer Begriff die Runde: „Bürgerjournalisten“ (vom englischen „citizen journalists“). Manche Kommentatoren würdigten Handyfilmer und Blogger rasch als neue, basisdemokratische Erweiterung der eigenen Zunft. Ein Jahr später ist die Bilanz durchwachsen. Zwar gibt es immer mehr Menschen, die Bilder, Texte und Videos ins Internet stellen, aber der traditionelle Journalismus ist der alte geblieben, so gut und schlecht wie immer. Die allermeisten der rund 250 000 deutschen Weblogs sind subjektive Online-Tagebücher für Freunde und Kollegen, zum Teil mit klitzekleinen Nischenthemen. Gelungene Netzauftritte wie etwa das Branchenweblog „Medienrauschen“ sind die Ausnahme und werden in der Regel von Leuten gemacht, die in ihrem Fachgebiet studieren oder studiert haben und schon journalistisch gearbeitet haben. Für die Macher solcher Seiten sind ihre Netzauftritte günstige Visitenkarten auf einem hart umkämpften Arbeitsmarkt.

Der Medienwissenschaftler Steffen Büffel forscht an der Universität Trier über Weblogs und Netzwerkkommunikation. Sein Urteil: „Ohne professionelle Hilfestellung funktioniert Amateurjournalismus nicht.“ Für die „Netzeitung” liest der Doktorand als „Moderator“ Manuskripte von Amateurschreibern, die dann in der Leseredition erscheinen. Vieles davon, so Büffel, sei eindimensional und sehr meinungsstark. Vom Begriff „Bürgerjournalismus“ hält er wenig: „Das ist ein idealisiertes Konzept.“ Die meisten Weblogger, er eingeschlossen, würden nur zum Spaß schreiben, fotografieren und filmen.

Trotzdem empfiehlt Büffel den Zeitungen, die Szene ernst zu nehmen. Während die Reichweiten von Printpublikationen sinken, wachse die Zahl der Internetnutzer weiter an. Gerade im Lokaljournalismus auf dem Land, wo nicht an jeder Ecke ein Journalist sitze, könnten die Amateure viel zur Berichterstattung beitragen. Für den dafür notwendigen Dialog mit der eigenen Zielgruppe müssten viele Journalisten aber ihr mitunter elitäres Selbstverständnis ändern. Die wenigsten Berührungsängste existieren im angloamerikanischen Raum. In den USA, bei allen Internettrends vorneweg, gibt es neue Forschungseinrichtungen wie das „J-Lab“ der Universität Maryland, die sich allein einem Thema widmen: „interaktiver Journalismus“. Das J-Lab zum Beispiel vergibt Preisgelder von bis zu 10 000 Dollar für gut gemachte Amateurseiten. 2005 gewann „chicagocrime.org“. Die Internetseite überträgt alle in Chicago berichteten Kriminalfälle auf Stadtpläne bei Google. Professionelle Journalisten sehen so auf einen Blick, wo welche Verbrechen stattgefunden haben. „Ein Knock-out“, jubeln die Preisrichter vom J-Lab auf ihrer Seite.

Ein anderes Beispiel ist das Unternehmen „Scoopt“ aus Glasgow. Die Schotten haben sich darauf spezialisiert, Amateurfotos an Redaktionen zu vermitteln. Dafür kassieren sie 50 Prozent des Honorars. Das liegt, je nach Motiv, zwischen rund 70 und mehreren tausend Euro. Unternehmenschef Kyle Macrae sagt, dass er gerade ein Foto von Zinedine Zidane für einen „sehr ordentlichen Preis“ an drei britische Tageszeitungen und ein Magazin verkauft hat. Das Bild zeige den französischen Fußballstar beim Rauchen – unmittelbar vor dem Halbfinale. Komischerweise hätten die französischen Zeitungen kein Interesse daran gehabt, ihren Volkshelden beim Inhalieren zu zeigen. „Abwarten”, sagt Macrae. „Vielleicht melden sie sich nach dem Finale noch mal.”

Marc Felix Serrao

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