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Medien: Die Krankmacher

Die Geschichte des französischen Friseurs ist sonderbar und tragisch: Sie endet mit Tablettenabhängigkeit, zwei Entziehungskuren und Selbstmord. Alles wegen einer dummen Verwechslung: Die französische Polizei hatte nach der Veröffentlichung eines Fahndungsfotos fälschlicherweise den eineiigen Zwillingsbruder eines gesuchten Vergewaltigers festgenommen.

Die Geschichte des französischen Friseurs ist sonderbar und tragisch: Sie endet mit Tablettenabhängigkeit, zwei Entziehungskuren und Selbstmord. Alles wegen einer dummen Verwechslung: Die französische Polizei hatte nach der Veröffentlichung eines Fahndungsfotos fälschlicherweise den eineiigen Zwillingsbruder eines gesuchten Vergewaltigers festgenommen. Als Vierjährige getrennt, wuchsen die Brüder bei Pflegefamilien auf und hatten den Kontakt zueinander verloren.

Eine Boulevardzeitung brachte- nachdem sich der Irrtum herausgestellt hatte-dennoch die Schlagzeile: "Wird er auch Frauen überfallen?"- zusammen mit einem Foto des Friseurs, der sich einige Jahre später das Leben nahm.

"Medienopfersyndrom" nennt der Schweizer Psychologe Mario Gmür das. Er hat ein Buch über dieses Phänomen geschrieben. Wie er sagt, aus "Empörung über die Entartungen", die in den Medien an der Tagesordnung seien.

So beklagt Gmür in dem Buch "Der öffentliche Mensch", dass Fakten allzu häufig nur als Deckmantel für möglichst sensationelle Geschichten dienten, die Gefühle aufpeitschen sollen. Insbesondere in der Boulevardpresse betrieben Journalisten auf "charakterlose" Art und Weise dieses "Gefühlssurfen". Die Folge: Die "EEE-Kultur" (Erlebnis, Emotion, Event) in der es "Sieger und Verlierer - Stars und Opfer" gibt.

Ist der Rundumschlag gegen den Medienbetrieb gerechtfertigt, oder sind das nicht doch nur unrühmliche Ausnahmen? Funktionieren Institutionen wie der Presserat nicht? Gmür will sich nicht als Miesmacher verstanden wissen, doch für ihn ist die klare Tendenz zu erkennen, in der Berichterstattung zu emotionalisieren. Das gelte auch für den so genannten Qualitätsjournalismus. Seine Beispiele reichen vom Gladbecker Geiseldrama über Lady Dis Tod bis zu neueren Quiz-Formaten, die vom "gespannten Verfolgen der Anzeichen von Stress" des Kandidaten lebten. Seinen Höhepunkt feiert dieses Genre gerade in den USA, in der zwei Shows so genanntes Folter-TV veranstalten. Der Schweizer "Klassiker journalistischer Untugend" stammt allerdings aus dem Jahr 1963. Das Boulevardblatt "Blick" veröffentlichte damals ein Foto trauernder Menschenmassen, um die Reaktion auf den Tod des Papstes zu illustrieren - der lebte aber noch und starb erst Stunden nach der Veröffentlichung.

In Extremfällen, glaubt Gmür, habe diese Berichterstattung eine moderne Lynchjustiz zur Folge-Rufmord durch die Medien. Die Folge: Vereinsamung, Depression, Selbstmord, Mord. Eine Statistik über die Zahl der Fälle, die unter das Medienopfersyndrom fallen könnten, gibt es allerdings nicht. Gmür sagt, er erhoffe sich durch sein Buch, die Aufmerksamkeit auf das Problem zu lenken.

Die Opfer sind jedoch nur die eine Seite dieser Entwicklung, die auch vermeintliche "Stars" wie Ex-"Big-Brother"-Insasse Zlatko oder Prominenten-Ex-Lebensgefährtinnen wie Jenny Elvers hervorbringt. Die Dramatisierung und die Allgegenwärtigkeit der Medien führe nämlich auch dazu, dass ein beim Grand Prix stümpernder Zlatko ebenso wichtig genommen würde wie etwa ein Opernsänger, "der wirklich was kann", wie Gmür meint. Womit er ein zentrales Problem anspricht: Die Menschen haben sich die Medien, von denen sie beeinflusst werden, selbst geschaffen. Keiner wird zu seinem Lese- oder Fernsehverhalten gezwungen.

"Der öffentliche Mensch" soll also ein Appell an die Medien sein, verantwortungsvoller zu handeln. Viel Hoffnung, dass es etwas nützt, scheint Gmür allerdings nicht zu haben, wenn er Enzensberger zititert: "Jede Aufklärung über die "Bild"-Zeitung ist vergeblich, weil es nichts über sie zu sagen gibt, was nicht schon alle wussten."

Heiko Dilk

Mario Gmür[De], \"Der öffentliche Mensch\"[De]

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