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Medien: Die unendliche Geschichte

Es ist die längste Dokumentation, die jemals gedreht wurde: Seit 1961 beobachtet Winfried Junge Kinder aus dem DDR-Dorf Golzow. Jetzt werden sie 50 Jahre alt

Vom Alltag anderer Leute hat man schnell genug. Er ähnelt meist sehr dem eigenen, der einen auch nicht gerade erhebt. Muss man nicht sehen. Der Alltag allein ist es also noch nicht.

Es braucht viel Zeit, bis das alltägliche Leben den großen Erzählbogen findet. Die Erstklässler des Sommers 1961 werden nun einer nach dem anderen fünfzig. Und immer noch steht Winfried Junge mit der Kamera daneben. Beharrlich, immer ein wenig bieder im Gestus, aber von nichts und niemandem zu vertreiben. Ein obsessiver MenschenFilmer, der glücklich ist, wenn man ihn einen „Golzower“ nennt. Denn in den Filmen spiegelt sich auch die Biographie des Filmers.

Als er im Sommer des Mauerbaus die Einschulung in Golzow filmte, da hoffte auch er noch auf sozialistische Musterbiographien für seine filmische Langzeitbeobachtung. Aber das Pathos des Neuen hatte von Anfang an etwas Komisches. 1962 stand Walter Ulbricht beim Fahnenappell vor den Golzower Jungpionieren in ihrer Uniform mit Halstuch und sagte einen typischen Ulbricht-Satz: „Ihr seid also die Pioniere, ja?“ Davon gibt es nur ein Foto, Winfried Junge wurde nicht hinzugezogen. Bei solch senilen Sätzen musste man um jede Art von Aufbruch fürchten. Und unparteiische Film-Zeugen wollte man auch nicht. Womit alles gesagt ist über das Elend des Dokumentarfilms in der DDR. Er sollte nur Schönes und Hoffnungsvolles zeigen, Erfolge und Siege des Sozialismus dokumentieren. Auch Junge machte Filme über Wettpflügen auf dem Acker, gesünderen Brotaufstrich, Eisbrecher auf der Oder, das fortschrittliche Säen und Düngen aus der Luft per Flugzeug und noch zwei Dutzend anderer Dokumentarfilme. Aber Junge muss sich da immer wie im Exil gefühlt haben – getrennt von seinen Golzowern. Wer an Junges Golzow-Besessenheit noch irgendeinen Zweifel hatte, der kann nun in einem neuen Buch das ganze Ausmaß von Golzow im Leben des Winfried Junge – staunend oder befremdet – besichtigen. Hier liest man, was passiert, wenn man sich als Jungregisseur aus einer Kindergruppe ahnungslos den Sohn von Erich Mielke zum Casting aussucht (na was wohl: ein gefährlich stolzer Papa, der eine besondere Telefonnummer über den Tisch schiebt) oder dass ORWO-Farbfilmmaterial nur „reines Licht“ (künstlich oder natürlich) vertrug, bei „Mischlicht“ aber sofort nach Blau-Grün kippte. Vor allem: der ewige Versuch, unter der falschen Flagge von Jubiläen und Staatsfeierlichkeiten zu segeln, immer wieder Geld und Sendeplätze für Golzow zu erschleichen. Das macht Junge bis heute so.

Er lässt uns das Vergehen der Zeit fühlen. Das Geheimnis dieser Filme: Wir sehen im Zeitraffer uns selbst in diesen Kindern alt werden. Ein Momento mori haben wir auch vor uns – Brigitte starb jung an Herzschwäche. Ihr unglückliches Leben gräbt sich einem ins Bildgedächtnis. Nein, diese Leben sind nicht banal, sie haben eine eigene Würde. Aber um das zu bemerken, muss man länger hinsehen, als Medien heute gewöhnlich Zeit haben.

Was Zeitungen über die Golzow-Filme schreiben, steht auch im Buch. Je älter die Zeitung, desto interessanter wird es natürlich. Da formuliert Regine Sylvester am 22. März 1980 zur Golzow-Bilanz „Anmut sparet nicht noch Mühe“ im „Neuen Deutschland“ einen Vorbehalt. Zum Filmtext, den Uwe Kant – Hermann Kants kleiner Bruder – geschrieben hatte. Kants Textkonzeption begrenze die Mitteilung der Figuren, lesen wir. Da schwingt der Verdacht mit, hier werde die herbe Prosa des Alltags allzu elegant zugetextet. Junges Filmfiguren könnten sich so nicht erklären, „dafür folge ich Mutmaßungen, zugegeben brillanten. Mich hätte noch mehr die Haltung der Figuren zu ihrer Entwicklung interessiert.“ Viele DDR-Zuschauer reagierten allergisch auf das Zukunftserbauerpathos des Filmkommentars, das Kant in Familienmanier schlau mit Ironie gebrochen hatte. Der Tagesspiegel lobt ohne Vorbehalt: „Ich fand es faszinierend, zuzusehen, wie aus Kindern Leute wurden. Kompliment für Uwe Kants nüchternen, herzlichen, manchmal ironischen Kommentar...“ (19.2.1981) Im Winterurlaub 1981 sah sich dann auch Erich Honecker den fürs Kino produzierten Film an, ließ nachfragen, wie viele Zuschauer der Film hatte und war mit den Zahlen unzufrieden. In der Art aller Alleinregierenden „empfahl“ er Adlershof die sofortige Ausstrahlung. Auch das ZDF folgte dieser Empfehlung (mit etwas Verspätung 1988) und sendete „Mit Anmut sparet nicht noch Mühe“.

An den „Kindern von Golzow“ nimmt schließlich die ganze Nation mehr oder weniger interessiert Anteil. Die „Lebensläufe“, neun Einzelporträts von Jürgen, Gudrun, Bernd, Brigitte, Dieter und den anderen, laufen in den 80er Jahren im Abendprogramm der ARD. Harte Kost für Freunde seichter Unterhaltung. Die „Aachener Volkszeitung“ schreibt denn auch: „Wer mag nur auf den Gedanken verfallen sein, uns an zwei schönen Sommerabenden viereinhalb Stunden lang mit DDR-Tristesse zu füttern?“ (25.6.1983).

Nach der Wende brechen harte Zeiten auch für diesen „einzigartigen Meilenstein in der Filmgeschichte“ (US-Fachblatt „Variety“) an. In der linken Wochenzeitung „Freitag“ schreibt Dietmar Hochmuth: „In fast schon seniler Weise, bar jeder Idee, filmt Junge als Übervater seiner Helden unablässig in ihrem Leben herum, selbst wenn sie es nicht mehr wollen.“ (26.2.1999) Die „taz“ bekundet, Junges berlinernden Bettina-Wegner-Ton nicht mehr zu ertragen, diese DDR-typische Ranschmeiße ans Volk.

Die Golzow-Filme: Geschichtsstunden über das Beharren des Einzelnen mitten im kollektivistischen Milieu. Worüber redeten Menschen, worüber schwiegen sie beharrlich? Es wird selbst für die Dabeigewesenen immer interessanter. Geschwiegen wurde ohnehin wenig. Arbeiter und Bauern hatten in der DDR leicht eine große Klappe. Die Angestellten, die Aufsteiger dagegen wogen ihre Worte. Bloß nichts Falsches sagen. Manche dieser Gewichtungen und Feinjustierungen fallen durchs grobe Opfer-Täter-Raster einer an DDR-Alltag desinteressierten Geschichtsschreibung. Junge stellt Anschauung gegen Abstraktion. Man muss sich diese Zeitdokumente immer wieder mal ansehen, um sich richtig zu erinnern. Mancher von denen mit der großen Klappe hat heute etwas Trotzig-Verzweifeltes. So wie Jochen, der arbeitslose Melker, der krank ist und auf dessen Haus der Rückübertragungsanspruch eines Alteigentümers lastet: „Wat du jetzt hast von mir, dazu stehe ick, det kannst du veröffentlichen ... Aber ansonsten ist jetzt Ende mit Allende!“ So was hört Junge gar nicht gern. Schluss ist bei ihm noch lange nicht. Der nächste abendfüllende Golzow-Film, er kommt.

Das Buch zum Film: Winfrid Junge, Barbara Junge: „Lebensläufe. Die Kinder von Golzow – Bilder, Dokumente, Erinnerungen.“ Schüren Verlag, Marburg 2004, 328 Seiten, 29, 90 Euro

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