zum Hauptinhalt
An seinem Hinterkopf trägt der farbenblinde Neil Harbisson einen Chip, heraus ragt eine schwarze Antenne mit einem optischen Sensor, der die Farben einfängt. Beispielsweise die einer Orange.

© Dan Wilton / Red Bulletin

Body-Hacker und Cyborgs: Ein Mann hört rot

Neil Harbisson ist von Geburt an farbenblind, trotzdem will er die Welt bunt sehen. Deshalb trickst er seine Augen aus – und wird zum ersten staatlich anerkannten Cyborg.

Sagt man zu Neil Harbisson „Blau“, hört er den Ton Cis und denkt an Albert. Albert, das ist ein Junge, den er kennengelernt hat, als er mit Farben noch nicht viel anfangen konnte. Harbisson sieht die Welt in Schwarz-Weiß, er ist von Geburt an farbenblind. Aber seine Freunde haben ihm von Farben erzählt, auch von Blau. Dass es eine kalte Farbe sei, aber auch eine sehr loyale. Informativ, königlich und maskulin. Wie Albert. Das Cis ist vor zehn Jahren dazugekommen. Seitdem kann Harbisson Farben hören.

Seine Geschichte beginnt im Jahr 2003, in einem Hörsaal in England. Der Musikstudent hörte einen Vortrag über Kybernetik. Gesprochen hat Adam Montandon, ein Experte, der sich mit der digitalen Zukunft beschäftigt. „Es war die größte Veränderung in meinem Leben“, sagt Harbisson: Technologie nicht als Werkzeug, sondern als Teil von sich zu sehen.

Die beiden kamen ins Gespräch und beschlossen, dass Klänge die beste Möglichkeit für Harbisson seien, Farben wahrzunehmen. 2004 war der Eyeborg fertig. Das Gerät verwandelt Farben in elektronische Klänge. Die erste Farbe, die Neil Harbisson hörte, war Rot – sie wurde zu seiner ersten Lieblingsfarbe.

Erst war alles unglaublich chaotisch. Aber langsam bekam er ein Gespür für die Welt, die sich ihm auftat. Als der Halbbrite das erste Mal mit dem neuen Sinn in seine Heimatstadt Barcelona zurückkam, war er überwältigt. Vor allem Gaudís Park Güell mit seinen bunten Steinen war für ihn ein musikalisches Ereignis. Den Eyeborg hat er seitdem nicht mehr abgenommen. Er trägt ihn sogar beim Schlafen.

Irgendwann begann Harbisson, in Farben zu träumen. Die elektronischen Klänge kamen nicht mehr aus dem Computer. Es war sein Gehirn, das die Töne erzeugte. Mensch und Technik sind eins geworden. 2004 durfte er auf seinem neuen Passfoto das Gerät tragen, nach längerem Marsch durch die Institutionen. Seitdem gilt er als der erste staatlich anerkannte Cyborg.

Der Begriff kommt ursprünglich aus der Raumfahrt. In den 1960er Jahren wollten der Wissenschaftler Manfred Clynes und der Mediziner Nathan Kline den Menschen technisch anpassen, damit er im All überleben kann. Harbisson mag diese Definition. Er will die menschlichen Sinne aber erweitern, um den Planeten Erde intensiver wahrnehmen und erkunden zu können. Sich an die Umwelt anzupassen und besser zu werden ist für Harbisson grundmenschlich.

Seinen Eyeborg verfeinert er Schritt für Schritt. 2004 hörte er die Farben noch über Kopfhörer, der Klang kam aus einem mehrere Kilogramm schweren Computer, den er auf dem Rücken trug. Seit 2010 sitzt ein Chip an seinem Hinterkopf. Heraus ragt eine schwarze Antenne, die sich über seine Pilzkopffrisur biegt. Vor der Stirn, etwas oberhalb der Augen, hängt an der Antenne der optische Sensor, der die Farben einfängt.

Jetzt will Harbisson den Chip direkt in seinen Schädelknochen einbauen lassen. Dafür gönnte sich der viel beschäftigte Cyborg zum Jahreswechsel eine Auszeit. Ist der Eyeborg erst mal implantiert, hofft Harbisson, die Farbtöne über Knochenschall noch präziser hören zu können. Als nächsten Ausbauschritt will er die Elektronik in seinem Kopf mit körpereigener Energie laden. Eine mikroskopische Turbine soll aus seinem Blutfluss Strom erzeugen. Noch muss er alle paar Tage an die Steckdose.

Es gab einen Punkt, von dem an er Farben genauer erkennen konnte, als es mit dem bloßen Auge möglich ist. Früher war es seine Partnerin Moon Ribas, die ihm Farben beschrieb – die beiden wuchsen zusammen in Barcelona auf, gingen zur selben Schule. „Wir alle sehen Farben“, sagt sie. „Aber auf einmal haben alle Neil gefragt, was für eine Farbe die Dinge haben.“

Auch sie begann zu experimentieren, am Anfang ebenfalls mit Farben: „Wenn du mit Neil zusammenwohnst, fühlt es sich so an, als ob es nichts als Farben gäbe.“ Dann wandte sich die Choreografin einem anderen Feld zu. Durch vibrierende Ohrringe spürte Ribas Bewegungen. Sie merkte, wie Menschen geschwindigkeitsmäßig aneinanderkleben. In jeder Stadt gebe es ein bestimmtes Gehtempo: „Jeder, der losgeht, startet in dieser Geschwindigkeit.“

2010 haben Ribas und Harbisson die Cyborg Foundation gegründet. Im Zentrum von Barcelona bauen sie eine Plattform für Menschen wie sie auf, die ihre Wahrnehmung erweitern wollen. Das haben sie mit den sogenannten Body-Hackern gemeinsam. Vor allem in den USA gibt es Menschen, die sich technisch ausbauen. Magnetische Implantate in den Fingerkuppen lassen sie zum Beispiel elektromagnetische Felder spüren – etwa, wenn die Mikrowelle eingeschaltet ist.

Beide, die Body-Hacker und die Cyborgs, wollen ihre Technik selbst bauen und sind der Meinung, dass sie frei und offen sein soll: „Wir wollen die Geräte öffnen, verändern und verbessern, so dass jeder seine eigenen, speziellen Sinne schaffen kann“, sagt Moon Ribas. So könne man sich gegenseitig helfen. Das sind Grundsätze der Hacker.

Die Body-Hacker wollen an ihrem Körper basteln

Ursprünglich bezeichnete dieses Wort jemanden, der mit einer Axt Möbel baut. Ein Hack wurde in der Subkultur, die sich seit den 1960er Jahren um Computer und Technik bildete, zu einer besonders eleganten, intelligenten oder auch witzigen Lösung eines Problems. Hacker sind begeisterte Bastler und Tüftler, das Einhacken in Computernetze ist nur ein Nebenaspekt. Die Body-Hacker greifen diese Ideen auf. Sie wollen an ihrem Körper basteln.

Body-Hacking sei ein riesiges Gebiet, sagt Harbisson. Man könne seinen Körper mit allem hacken, sich etwa eine Gabel in die Hand bauen. „Was wir machen, ist aber sehr speziell, wir benutzen Kybernetik.“ Damit meint er Computertechnik, die mit dem Menschen kommuniziert. Eine Beinprothese oder eine Brille tun das nicht. Und die Cyborgs verfolgen ein bestimmtes Ziel. Sie wollen Kunst mit ihren Sinnen machen, die sie selbst als Kunstwerke betrachten.

Ihr neuestes Projekt nennt sich Seismic Sense – ein Sinn für Erdbewegungen. Moon Ribas trägt ein Armband, über das Internet ist es mit Seismografen verbunden: „Das ist eine echte Verbindung zur Erde, und das ist aufregend!“ Wenn die Erde bebt, vibriert das Gerät. Ribas hat das Gefühl, dass wir uns nicht gut an unseren Planeten angepasst hätten. Die Erde bewege sich, sie lebe. „Wir begreifen das nicht und bauen all diese Städte.“ Sie hat dieses Bild im Kopf, dass die Erde darunter atmen will.

In ihrer Performance „Waiting for Earthquakes“ tanzt sie zu Erdstößen, die ein Beamer an die Wand wirft. Oder auf ihren Körper, wenn sie mit fließenden, bebenden Bewegungen ins Bild schwebt.

Der Musiker Harbisson gibt Gesichtskonzerte. Aus den Klängen von Augen, Lippen, Haaren und Haut baut er Melodien und Rhythmen. Wenn die Musik nicht gut klinge, sagt er, sei das nicht seine Schuld. Das Gesicht ist einfach dissonant.

Reden in Farben: Hitler ist bunter als Martin Luther King

Er geht aber auch in die andere Richtung. Musikstücke und Reden werden zu Farbsequenzen, die er zu rechteckigen Bildern malt. Farben und Klänge – für Harbisson sind sie eins. Justin Biebers Lied „Baby“ ist pinklastig. Gerne stellt Harbisson die Bilder zweier Reden unkommentiert nebeneinander und lässt das Publikum raten. Die eine ist Martin Luther Kings „I Have a Dream“. Die andere ist von Hitler. Die meisten liegen falsch. Hitler ist bunter.

Rot ist inzwischen allerdings nicht mehr Harbissons Lieblingsfarbe. Nach ein paar Jahren hat er sich im Supermarkt eine Aubergine angehört und war überrascht; er hatte immer gedacht, sie wären schwarz. Aubergine wurde eine Zeit lang seine neue Lieblingsfarbe. Heute ist es Infrarot, der tiefste Ton, den er wahrnehmen kann: „sehr entspannend“. Außerdem finde man ihn an interessanten Orten. Zum Beispiel, wenn ein Bewegungsmelder in der Nähe ist.

Seit er den Chip am Hinterkopf trägt, kann er das nahe Spektrum von Infrarot und Ultraviolett hören. Wenn der Eyeborg erst mal in seinen Schädel integriert ist, hofft er auf noch mehr, bisher nicht gekannte Farben. „Ich werde sie erst noch benennen müssen.“ Und er wird zum ersten Mal seit zehn Jahren wieder tauchen können. Bislang kann der Eyeborg zwar nass werden, er ist aber nicht vollkommen wasserfest. Harbisson ist schon gespannt, wie die Farben unter der Meeresoberfläche klingen.

Florian Falzeder

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false