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Der Dalai Lama verkörpert das politische Charisma alten Typs.

© Reuters

Charisma in Zeiten des Internet: Das Verzwergen der Helden

Der Dalai Lama oder Willy Brandt gelten als charismatische Persönlichkeiten. Charisma aber braucht Zeit. Das digitale Zeitalter lässt keine Zeit mehr. Dafür dominiert und regiert Madame Effizienz.

Hat das Netz den politischen Charismatiker gekillt? Lässt die digitale Transparenzgesellschaft den Charismatiker überhaupt noch zu? Als Barack Obama 2008 zum Welthoffnungsträger wurde, schien es noch zueinander zu passen: politisches Charisma und Cyberspace. Die Hip-HopGruppe The Black Eyed Peas verwandelten den Wahlkampfslogan „Yes, we can“ unter Beteiligung zahlreicher Prominenz in ein pathosflammendes Pop-Politik-Statement. Großes Gefühlstheater! Noch heute spürt man die charismatische Kraft des Kandidaten in diesem Clip. Dann kamen die Wikileaks-Enthüllungen, dann kam Edward Snowden, und aus dem digitalen Euphoriker Obama wurde ein digitaler Schnüffler. „Yes, we scan“, heißt es jetzt. Entzaubert! Die Transparenzgesellschaft hat zugeschlagen. Auf der kleineren deutschen Bühne wurde ein Charisma-Bengelchen wie Karl-Theodor zu Guttenberg von den digitalen Schwarmgeistern als Lebenswegfälscher entlarvt. Abtreten!

Das sind Schlaglichter, große und kleine Sonderfälle, aber – das ist die grundsätzliche Frage – lässt die rasende Digitalität überhaupt noch den charismatischen Führer nachwachsen oder ist das Netz der natürliche Feind desselben, weil es jegliche Autorität demontiert, jede Identität demaskiert und die Geschichte, das historische Gewächshaus des Charismatikers, auflöst in Myriaden von gleichgewichtigen Augenblicken und Momenten? Trifft man heute „nachwachsende“ Politiker, hat man das Gefühl, sie seien Textausstoßproduzenten, Digitalsklaven, die jeden Tag eine neue Version ihres Ichs hochladen müssen, sie twittern, mailen und netzwerken um ihre nackte Existenzpräsenz. Wo jeder jeden Tag einen Offenbarungseid leisten muss, so der Verdacht, gedeiht kein Charisma.

Das politische Charisma alten Typs, so wie es der Dalai Lama noch verkörpert und Willy Brandt verkörpert hat, war an ein Arkanum gebunden, ein Geheimnis. Der Charismatiker faszinierte die Masse durch die Aura der Differenz, das Anderssein. Zugleich jedoch musste die Differenz nahbar bleiben, die Masse musste sich selbst, ihr eigenes Leid in der Brust des Kandidaten geborgen wissen. Der Charismatiker war der Erlöser, aber eben auch der zu Erlösende.

Berlin war zur Zeit des Kalten Krieges für Politiker eine Kairos-Maschine, der Ort historischer Entscheidungs- und Bewährungsaugenblicke und somit eine Charisma-Bühne im global-medialen Fadenkreuz. Die Berliner suchten Halt an Willy Brandt, weil sie sich ohnmächtig fühlten, und in ihm fanden sie den Mann, der ihre Ohnmacht überzeugend artikulierte und dadurch Macht gewann. Seine aggressive Empörungsrhetorik, seine Empathie für die zerrissene Stadt wirkte echt. Die Massenmedien, der Springer-Konzern voran, inszenierten Brandt als Messiasfigur, als Menschen, der gegen die stalinistischen Monster à la Walter Ulbricht in die Schlacht zog. In dieser vordigitalen Ära konnte der Politiker sich sein Charisma noch erwerben, erleiden auf einem langen Weg. Brandt scheiterte 1961 und 1965 als Kanzlerkandidat, er wurde von der politischen Rechten als Vaterlandsverräter und uneheliches Kind geschmäht. Brandt blieb stehen, lebte ein Dennoch. Er erwarb sich Stigmata, ging jedoch nicht mit ihnen hausieren. Man erkannte sich ihn ihm, empörte sich über seine Gegner, trug ihm Gefolgschaft an. Oskar Lafontaine und Gerhard Schröder bis hin zu Peer Steinbrück, sie alle traten in die SPD ein, weil Brandt sie anzog. Stigmata-Jünger. Das hob ihn über den Alltag hinaus, das hob ihn ab von der politischen Dutzendstatur. Eine schmerzliche Geschichte, die jedoch den Keim des Triumphes in sich trug. Politisches Charisma bedeutet: Stigmata und Leid umdeuten und in Grandiosität verwandeln, in Unverwechselbarkeit, in Siegeszuversicht. In diesem Triumphgefühl, in dieser seligen Interaktion verschmolzen der Charismatiker und sein Kollektiv. Zusammen heben wir die Welt aus den Angeln, zusammen überwinden wir die Krise.

Im Internet hat der charismatische Führer keine Chance, zu sich selbst zu finden

Das Netz hat diese komplizierte Interaktion zwischen Kandidat, Kairos, Geschichte, Biografie, leiblicher Präsenz und linear strukturierten Massenmedien offenbar so weit kompliziert, dass der charismatische Führer per se keine Chance mehr hat, sich selbst zu finden, sich zu erfinden. Das Netz übernimmt die wilde Deutungshoheit, wo die Netzgemeinde sich nicht mehr auf einen Führer einschwören lässt. Peer Steinbrücks Tränenausbruch auf dem Parteikonvent erzielt auf Youtube zwar viele Klicks, aber nichts folgt daraus. Angela Merkel wartet mit einer neuen Homepage auf, aber wer die Adresse angelamerkel.de in seinen Browser eingibt, landet bei der SPD, weil sich ein Spaßvogel ihre domain gesichert hat. Findet man dann endlich ihre Homepage (angela-merkel.de), entdeckt man die Frau vor lauter Phrasen nicht: Sie wird zum Floskel-Phantom ohne Charisma, kein Wundmal weit und breit. Auch das Studium von Peer Steinbrücks Homepage lehrt, dass der Mann ein guter Rhetoriker ist, aber kaum charismatische Bindungskraft besitzt. Im Netz schon gar nicht. Seine Homepage dokumentiert auch, dass Charisma hier nur überlebt, wenn alle medialen Inszenierungskünste zusammenwirken, ansonsten verzwergt die digitale Arena den Helden. Auf der Homepage wettert Steinbrück gegen den Stillstand, steht aber still und starr im Bild, keine Musikalität der Rede und des Bilds, keine Steigerung, kein Sehnsuchtsanker, kein Symbol für das „Wir“, sondern nur ein „Er“, Parolen-Peer.

Ohne emphatische Gemeinschaft jedoch ist der Charismatiker verloren, doch das Netz weht die Egos nur flüchtig zusammen. Nicht zuletzt die Personaldramen der Piraten-Partei decken das Dilemma des Politikers in der digitalen Ära auf. Die Erschöpfung ihrer politischen Geschäftsführer wie Marina Weisband oder Johannes Ponader zeigt, dass Politiker nicht mehr als Erlöser, sondern als Abzulösende wahrgenommen werden. Die Piraten wollten menschlich bleiben, echt, authentisch, sie wollen die Liquid Democracy schaffen, mehr demokratische Teilhabe organisieren, dem erstarrten Profipolitiker ein menschliches Antlitz geben. Doch ihre Transparenztugend wird unversehens zum Transparenzterror, ihre durchaus begabten Geschäftsführer werden zerrissen vom kommunikativen Overkill, die Botschaft, die Offenbarungssehnsucht, frisst ihre Kinder.

Das digitale Wir, das sie fordern, setzt in hohem Maße den digitalen Eremiten voraus, der sich als Netzknüpfer und Augenblickspolitiker versteht. Doch je mehr sich der Pirat einspeist in die digitale Wir-Welt, desto größer die Gefahr, dass er vor lauter Hyperaktivität zum Autisten wird. Er verschwindet von der Bildfläche, um auf dem Schirm zu erscheinen, aber auch da geht er irgendwann unter, weil er sich zappelnd im selbst geknüpften Netz verfängt. Charisma braucht Zeit, das Netz gebiert allzeit Unzeit. Paradox ist, dass die Sehnsucht nach dem charismatischen Führer oder der Führerin nicht abgenommen hat, sondern gerade in der digitalen Transparenzarena aufrechterhalten wird.

Die Sehnsucht nach einer politischen Erlöserfigur und einem Messias, dessen Botschaft über den Tag hinaus reicht, der mit anderen, mit authentischen Zungen spricht und der die aussöhnenden Gesten beherrscht, ist groß. Regiert werden wir dennoch von Madame Effizienz, Angela Merkel, deren kühle Aura deshalb so gut zum Internetzeitalter passt, weil all die Augenblicksalarme, die situativ geborenen Dramen, all die Entblößungs- und Durchleuchtungsschauspiele des digitalen Marktplatzes an ihr abperlen. Kann man jemanden entzaubern, dem kein Zauber innewohnt?

Von Torsten Körner erscheint am 22. August „Die Familie Willy Brandt“, S. Fischer Verlag, 512 Seiten, 22,99 Euro.

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