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Fotos anschauen und Pinguine anklicken - so helfen Bürger der Wissenschaft.

© dpa

Pinguinforscher vom Schreibtisch: Laienwissenschaft erfreut sich immer größerer Beliebtheit

Sie jagen Pinguine und entdecken Planeten: Im Netz greifen Laienwissenschaftler der Forschung unter die Arme. Aber nicht nur in der Antarktis: Auch die Wildtierforschung in Berlin kann so unterstützt werden.

Der Pinguin bewegt sich nicht. Eisschollen treiben hinter ihm auf dem Meer. Voller Konzentration beißt sich Alex Nurmann auf die Lippe. Seine Augen verengen sich. Dann schiebt er das Fadenkreuz über den Pinguin. Nurmanns Zeigefinger krümmt sich, ein leises mechanisches Klicken. Dann nimmt Nurmann das flauschige Küken daneben aufs Korn.

Alex Nurmann mag Tiere. Er macht das, um ihnen zu helfen. Nurmann ist Hobbyforscher und lebt in Potsdam. Und sein Jagdgebiet ist nicht die Antarktis, sondern der Bildschirm seines privaten Computers. In seiner Freizeit wertet Nurmann als Laienwissenschaftler Bilder, Audios und Videos von Feldforschern aus. Gerade befindet er sich auf der Pirsch nach Pinguinen. Ein Foto nach dem anderen erscheint auf seinem Bildschirm. Sieht Nurmann einen Vogel, klickt er auf ihn und ein Fadenkreuz erscheint: orange für ausgewachsene Tiere, grün für Jungtiere, gelb für Eier. Bild um Bild. Mehr als 150 000 wurden bereits beim „Spioniere Pinguine aus“-Projekt von knapp 15 000 freiwilligen Helfern ausgewertet. Die Bilder stammen aus 50 automatisierten Kameras, die am Südpol stehen. Zwischen acht und 96 Bilder pro Tag schießen sie. Mal mit Pinguinen, mal ohne.

Tausende Bilder kommen so pro Tag zusammen. Bilder, die Aufschluss über die Pinguin-Population, ihr Sozialverhalten und ihre Brutzeiten geben können. Doch weil Algorithmen bisher nur schwer zwischen schwarz-grauem Geröll, Schnee und schwarz-weißen Pinguinen unterscheiden können, müssen Menschen jedes einzelne Bild betrachten und verschlagworten. Eine Aufgabe, die kein Forschungsteam stemmen kann. Die einzige Gruppe, die das bewältigen kann, ist die Crowd, die Netzcommunity. User spenden der Wissenschaft ein wenig Lebenszeit und gehen im Netz auf die Jagd nach Pinguinküken.

Geräusche aus dem Meer live ins Netz

Bevor Alex Nurmann in der Antarktis Pinguine ausspionierte, war er digital an der Westküste der USA unterwegs und lauschte nach Orka-Walgesängen in der Salish Sea, einem Meeresarm an der Pazifikküste des Bundesstaats Washington. Aus Unterwassermikrofonen wurden die Geräusche aus dem Meer live ins Netz übertragen. Hörte Nurmann Walgesänge und typische Orka-Klicks, überprüfte er seine Entdeckung über den Live-Stream von Kameras, die auf den Pazifikausläufer gerichtet sind. Lugten die Finnen der großen Raubtiere aus dem Wasser, schrieb er eine Mail an die Wissenschaftler vor Ort.

Citizen Science nennt sich diese Art der Forschung. In Deutschland spricht man etwas abwertend von Laienwissenschaftlern, doch auch hierzulande boomt das Konzept. Auf buergerschaffenwissen.de und dem englischsprachigen Portal zooniverse.org werden Projekte den Bürgerforschern angeboten. Pro Woche kommt ein neues hinzu. Vor allem Biologen versuchen, die Biodiversität mit abertausenden freiwilligen Helfern rund um den Globus zu kartografieren. Und das nicht ohne Grund. Kaum eine Wissenschaft hat eine so lange Tradition, Bürger in ihre Forschung einzubinden, wie die Biologie. Das älteste Citizen-Science-Projekt stammt aus dem Jahr 1900. Die National Audubon Society rief damals zum Zählen von Vögeln auf, um die Bestände zu erforschen. Jahr für Jahr. Bis heute.

Neben Pinguinen und Meeressäugern gibt es eine kurios große Bandbreite von Forschungsobjekten: mikroskopisch kleine Würmer, Exoplaneten, Algenwälder, Gemälde, Sonnenstürme, Higgs-Teilchen und Krebszellen. Mal beobachten die User Fadenwürmer bei der Eiablage, mal bestimmen sie die Flugrichtung von atomaren Partikeln, die bei der Kernfusion im Schweizer CERN-Forschungsreaktor entstanden sind. Und manchmal helfen sie, die Besatzung der Internationalen Raumstation ISS vor Sonnenstürmen zu warnen.

Wissen der Menschheit mehren

Das Projekt Solar Stormwatch schult seine Community darin, elektromagnetische Stürme in Echtzeit in der Sonnenkorona zu erkennen, deren radioaktive Strahlung die Astronauten bedroht. Briefing Mission heißt der Unterricht und zeigt den Spagat, den Wissenschaftler mit Citizen Science schaffen. Denn neben dem hehren Ziel, das Wissen der Menschheit zu mehren, appellieren die Wissenschaftler in ironischem Ernst an die Spielfreude der Hobbyforscher. Der User fühlt sich an ein Computerspiel erinnert, wenn er in der Missionseinweisung eine kurze Anleitung erhält und dann auf eigene Faust mit Sonnenwinden ringen muss. Und auch das Kartografieren der Pinguine erinnert optisch nicht ganz zufällig an das Moorhuhn-Ballerspiel.

Neben dem Stolz, Wissenschaft zu betreiben, und dem Spaßfaktor gibt es einen weiteren Grund, warum sich die Laienwissenschaft immer größerer Beliebtheit erfreut. War Forschung einst das Werk einsamer Männer in verstaubten Turmzimmern, die Schmetterlinge auf Nadeln spießten, ist Citizen Science mittlerweile ein soziales Ereignis. In Foren wie naturgucker.de diskutieren die Projektteilnehmer leidenschaftlich über ihre Beobachtungen.

Projekte wie „Verlust der Nacht“ bringen ihre Nachwuchsforscher sogar tatsächlich auf die Straße. Über eine App werden User dazu aufgerufen, nachts Sterne zu zählen und diese in die integrierte Karte einzutragen. Je weniger Sterne die Nutzer finden, desto höher muss die Lichtverschmutzung durch Laternen sein. Wichtige Daten für Wissenschaftler. Für die Community hingegen Gelegenheit, sich in Flashmobs zu organisieren, um noch mehr Menschen für Forschung zu interessieren, wie zuletzt Mitte März im Park am Gleisdreieck in Berlin. So wird Wissenschaft zum sozialen Event mit Gleichgesinnten. Mehr als zehntausend Mal wurde die App bereits heruntergeladen.

Stechmücken sammeln oder Neutronenstern entdecken

Daneben gibt es in Berlin noch weitere lokale Projekte: Die Webseite portal-beee.de, die vom Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung betrieben wird, sammelt Sichtungen von Igeln und Wildschweinen in der Hauptstadt. Jeder Berliner ist aufgerufen, Tiere dort zu melden. „Denn obwohl Igel in der Hauptstadt vermutlich flächendeckend vorkommen, wissen wir erstaunlich wenig über sie in der Stadt“, sagt Anke Schumann, die das Projekt koordiniert. Seit 2012 sind insgesamt mehr als 370 Sichtungen von Berlinern eingetragen worden, aus denen sich die Wissenschaftler Aufschluss über das Leben der Tiere in der Stadt erhoffen. Erste Ergebnisse sollen bald auf der Webseite veröffentlicht werden.

Ein weiteres Projekt, das auf portal-beee.de angepriesen wird, ist ein deutschlandweiter Mückenatlas, der verschiedenen Arten kartografieren will. Bürger werden gebeten, Stechmücken einzufangen, wenn sich diese zum Bluttrinken auf die Haut setzen. Aber bitte unversehrt! Nach der Henkersmahlzeit der Mücke soll diese mit einem Glas- oder Plastikbehälter gefangen und an ein Forschungsinstitut in Müncheberg geschickt werden. 20 000 Mücken sind so seit 2012 bereits zusammengekommen. Bei einem durchschnittlichen Saugvolumen von 1,5 Mikrolitern sind das ganze sechs Teelöffel Blut, die die Deutschen für die Mückenforschung schon vergossen haben.

Wer nicht ganz so viel Herzblut für die Wissenschaft opfern will, kann trotzdem seinen Beitrag leisten. Am bequemsten kann man zum Hobbywissenschaftler werden, indem man nichts tut. Also offline ist. Denn dann wird ein Schatz frei, der für Astronomen Gold wert ist: Rechenkapazität. Bei dem Projekt Einstein@Home stellen User die Leistung ihrer Rechner und Smartphones den Forschern zur Verfügung, wenn sie nicht selbst surfen oder das Handy gerade an der Steckdose hängt. Ein Programm nutzt die Rechenkraft und beginnt im Hintergrund Daten von Weltraumteleskopen auf Gravitationswellen auszuwerten, um nach neuen Himmelskörpern zu suchen. Die dabei anfallenden Datenmengen sind nämlich so groß, dass die Analyse selbst auf Supercomputern sehr lange dauern würden.

Was man machen muss, um hier zu helfen? Die Boinc-App herunterladen, einmal bei Einstein@Home registrieren und darauf warten, dass das eigene Smartphone einen Neutronenstern im Universum entdeckt. So geht Wissenschaft.

Michel Penke

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