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Medien: Eine Rechnung ist aufgemacht

LEITARTIKEL 19. JUNI 1953

Wenn nicht alles trügt, werden die Ereignisse in Ostberlin internationale Folgen haben. Gerade die neue Moskauer Taktik der Harmlosigkeit ist empfindlich getroffen worden: die ganze Atmosphäre, in der diese Taktik vorteilhaft angewandt und günstig aufgenommen wurde, hat sich über Nacht gewandelt. Zweifellos sind sich die Moskowiter darüber klar gewesen, und die Verlegenheit, in die sie infolgedessen gerieten, hat ihnen zunächst Zurückhaltung auferlegt. Wahrscheinlich erschien es ihnen im ersten Entwicklungsstadium des Aufstandes sogar nützlich, wenn sich der Volkszorn über den Köpfen ihrer Marionetten entlud.

Aber so einfach kann es der Kreml nun einmal von Natur nicht haben. Sein Wille ist es ja gewesen, den unter seinem Wahrzeichen besetzten Ländern Europas nicht jenen Status einer normalen Okkupation zu geben, in dem das Gesicht der Okkupierten zwar beobachtet, aber nicht berührt wird, sondern sie durch einen wahren Seelenraub völlig unkenntlich zu machen. Kommt es trotzdem einmal zur Rebellion, so besteht sie nicht aus Aufständen, die leicht verflackern oder leicht niederzuschlagen sind, sondern es ist ein einziger großer, vulkanischer Aufruhr, der weiter und weiter schwelt, wenn er an der Oberfläche wie erloschen aussieht. Diesen gefährlichen Ernst erkannten die Sowjets am Mittwoch, und nun war alles zu spät.

Daß sich viele neugierige Westberliner in den Sowjetsektor begeben haben, um mit eigenen Augen ein offenbares Wunder, nämlich einen Aufruhr in einem sowjetischen Sklavengebiet, zu sehen, ist die natürlichste Sache von der Welt. Und daß die Sowjets unter den Namen der Verhafteten nur die Namen derjenigen verbreiten, die in Westberlin wohnen, ist man gewohnt. Wie ein Reporter des Tagesspiegels entdeckte, der die Verhaftetenliste unter die Lupe nahm, sind ein Drehorgelspieler und ein Beinamputierter unter denen, die angeblich den Sowjetkoloß nahezu zum Einsturz brachten; und die Demonstranten in Magdeburg sind vermutlich von Westberlinern angeführt worden, die von der Autobahn abgewichen waren.

Unter dem Ausnahmezustand hat der sowjetische Kommandant – Dibrowa heißt die Kanaille; man merke sich den Namen für eine spätere Auslieferungsliste – bereits einen Westberliner erschießen lassen. Mit ihren Feuerüberfällen gefährden die roten Mörder fortgesetzt unser Gebiet; von 1945 her kennen wir ihre Schießwütigkeit. Aber die Sowjets haben durch die totale Abriegelung ihres Sektors nun auch die Fiktion eines „Viermächtestatus“ dieser Stadt aufgehoben. Niemand ist folglich mehr daran gebunden; es kann gehandelt werden. Westberliner Techniker sollten untersuchen, ob der Betrieb einer selbständigen Westberliner S-Bahn möglich wäre.

Schon klingen uns die Einwände des formalen Rechts, das hier notwendig Unrecht wird, in den Ohren. Unabhängig davon kann der Vorschlag, den wir hier namens vieler Leser in aller Form machen, auf unserem eigenen Grund und Boden ohne Hindernis verwirklicht werden:

Auf demselben Grünstreifen in der Mitte der Potsdamer Chaussee, auf dem das Sowjetdenkmal steht, und nicht weit von diesem, so daß eine von einem Künstler zu schaffende Trotzgestalt in die Mündung des Panzergeschützes blickt, soll ein deutsches Mahnmal für alle Opfer des Sowjetismus errichtet werden. Wo ist die Organisation, die sich dieses Vorschlages annimmt?

Für diesen – hier stark gekürzten – Leitartikel bekam Tagesspiegel-Mitbegründer Erik Reger Ärger mit den Amerikanern. Lothar Löwe, damals Redakteur beim „Abend“, erinnerte sich vor kurzem daran: Reger wurde einbestellt und gemaßregelt. Insbesondere beanstandeten die Amerikaner, dass er den sowjetischen Kommandanten Dibrowa als Kanaille bezeichnet hatte. Das Mahnmal, für das Reger warb, ist später errichtet worden. Dort wird auch sowjetischer Soldaten gedacht, die angeblich als Befehlsverweigerer vom 17. Juni hingerichtet wurden – was so nicht stimmt, wie man heute weiß. (lom)

Erik Reger

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