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Medien: Erster Schritt in die Freiheit

Die „Jüdische Allgemeine“ wird 60 Jahre alt

Umzüge haben ihr gut getan. 1999 hat es sie aus Bonn in die Berliner Tucholskystraße verschlagen, mit dem Zentralrat der Juden. Ein ehrwürdiger Bau samt Weisheitssymbol überm Portal, einem Löwenhaupt. Vier Jahre später bezog sie das Haus zur Berolina am Hausvogteiplatz. Eine Uhr im Sonnenkranz tickt an der historischen Fassade. Wer davorsteht, sieht die Kuppelfigur der Tugend auf dem Deutschen Dom am Gendarmenmarkt glänzen, Schinkels Friedrichwerdersche Kirche, den Fernsehturm, ein Riesenbaugrube an der Oberwallstraße, ein Einstein-Wort am Justizministerium: „Wenn es sich um Wahrheit und Gerechtigkeit handelt, gibt es nicht die Unterscheidung zwischen kleinen und großen Problemen.“ Schönes Motto für Journalisten. Auf dem Platz steht zur Erinnerung an das Konfektionsviertel jüdischer Modemacher ein Denkmal: drei geneigte, doppelseitige Spiegel. Wer sich dazwischenstellt, sieht sich selbst, Bilder und Endlos-Spiegelungen von „draußen“ und „drinnen“. Schönes Mahnmal für eine Zeitung. Hier ist sie zu Haus, die „Jüdische Allgemeine“.

„Wir stehen vor den Pesach-Feiertagen“, hieß es im Editorial des Jüdischen Gemeindeblatts, das am 15. April 1946 erstmals in Düsseldorf erschien. „Wir denken an die alte Erzählung von der Befreiung aus der Knechtschaft Ägyptens. ... Dieses Gemeindeblatt ... ist ein erster Schritt in die Freiheit, ein weiterer Schritt für den Wiederaufbau der jüdischen Gemeinden in Deutschland.“ Das anfangs vierseitige Periodikum stand in einer großen Tradition – der 1837 gegründeten „Allgemeinen Zeitung des Judenthums“, der 1922 bis 1938 erschienenen CV-Zeitung – und machte nach dem Tod seines Gründers Karl Marx fast bankrott; wurde 1973 vom Zentralrat erworben, in Bonn zur „Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung“ umformatiert. Damals war aus der 1946 provokanten Idee vom „Wiederaufbau der jüdischen Gemeinden“ Alltag geworden. Die Nähe zum institutionellen Eigentümer und dessen Nähe zur Regierung hat der Zeitung nicht genützt. Junge linke Juden kamen hier kaum zu Wort. 1994 reduzierte man sich auf 14-tägiges Erscheinen. Vor dem Umzug nach Berlin verkaufte man 5000 Exemplare.

Jetzt ist sie wieder Weekly „für Politik, Kultur, Religion und Jüdisches Leben“. Über 20 Seiten stark, 17 000 Exemplare. Die Bleiwüste hat sich zum professionell gemachten, bunten Printprodukt gemausert, mit einem Design-Preis geehrt. Leser sind Juden und Judenfreunde, Autoren auch bekannte Namen. Themenbögen spannen sich von politischer Aktualität über zeitlos gründliche Reportagen zur Folklore, ins Gemeindeleben: der Spagat einer Spartenzeitung. Die seinerzeit vom Zentralrats-Vize Friedman forcierte journalistische Unabhängigkeit hat zugenommen, es gibt Pro und Contras, doch ist die mainstream correctness als Verbandsorgan schwer abzuschütteln. An der Jubiläumsausgabe fällt die Geschichtsträchtigkeit ausgegrabener Artikel auf, die Promiparade der Gratulanten. Sie ist auch ein Denkmal der Nachkriegshistorie, Schaufenster des nach Deutschland zurückgekehrten Judentums und Spiegel jüdischer Vielfalt.

Und der Einheitsgemeinde im Widerstreit! Die meisten Leser sind deutscher Herkunft. Für die Zukunft wünscht sich Chefredakteur Christian Böhme mehr jüngere Leser, mehr Zuwanderer. Es sei „sehr, sehr schwer“ diese Mehrheit unter den Juden Deutschlands zu gewinnen. Interkulturelle Erfahrung zwischen Minderheit und Mehrheit prägt auch den Alltag Böhmes in seiner siebenköpfigen Redaktion. Der ehemalige Tagesspiegel-Redakteur ist Nichtjude. Im Büro, sagt er, werde ihm das nicht präsent. Ressentiments bekomme er nicht zu spüren. Dass er keiner jüdischen Meinungsfraktion angehöre, erleichtere seinen Job.

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