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Fernsehen: Mutter ohne Gefühl

Im Tatort „Kleine Herzen“ ist eine 18-Jährige mit der Betreuung ihres Sohns überfordert.

Obwohl in München sommerliche Temperaturen herrschen, ist es kalt bei dieser Familie. Die Kälte rührt aus ihrem Inneren: Niemand in dieser Familie zeigt seine Gefühle, sie umarmen sich nicht, hier ist keine Herzlichkeit zu finden. In den verletzten Blicken der jungen, erst 18-jährigen Anne Kempf (Janina Stopper) spiegeln sich Kälte und Angst. Anne wurde nie geliebt, nie geschützt. Also kann auch sie nicht lieben – und schützt nun auch ihr eigenes Kind nicht, den vierjährigen Tim, den sie bekam, als sie 14 war und selbst noch ein Kind. Beide sind sie „Kleine Herzen“, so heißt der „Tatort“, der am Sonntag im Ersten läuft.

Anne ist immer gehetzt, sie hat mehrere Jobs, kommt überall zu spät, und immer muss sie Tim noch „wegorganisieren“. Ein eigenes Leben habe sie gar nicht, sie müsse nur funktionieren und sich um diesen Sohn kümmern, sagt sie später einmal zu Kriminalhauptkommissar Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl), nachdem im Park eine Frauenleiche gefunden wurde. Die tote Frau ist Annes Freundin Katrin, die wiederum die Schwester von Marc Sommer (Max Mauff) ist, dem Vater des kleinen Tim. Auch er ist 18 und mit Anne längst nicht mehr zusammen. Einmal pro Woche sieht Marc seinen Sohn. Mehr Zeit ist nicht. Katrin kümmerte sich dafür umso mehr um Tim – und machte damit sowohl Anne als auch Marc ein umso schlechteres Gewissen.

Aber plötzlich liegt Katrin ermordet im Park. Ihr Vater (Eisi Gulp) kann mit alledem emotional nur wenig anfangen – aber immerhin, er ist der Einzige, der wegen Katrins Tod weint. Marc vermutet nachher, dass es seinem Vater wohl lieber gewesen wäre, wenn er statt seiner Schwester umgebracht worden wäre. Den Kommissaren Leitmayr und Ivo Batic (Miroslav Nemec) verrät er, dass er sich heimlich an der amerikanischen Elite-Universität Stanford beworben hat. Bloß weg hier, sagt Marc, was soll ich noch hier? Auch er ein Ungeliebter.

Regisseur Filippos Tsitos, der mit „Kleine Herzen“ seinen dritten Münchner „Tatort“ nach „Wolf im Schafspelz“ (2001) und „Sechs zum Essen“ (2004) inszeniert hat, und Drehbuchautorin Stefanie Kremser, die mit Tsitos bei allen drei „Tatorten“ des Bayerischen Rundfunks zusammenarbeitete – sie haben hier einen ganz stillen, leisen Fernsehfilm geschaffen, in dem nur wenig Äußerliches passiert. Außen drückt die Münchner Sommerhitze. Im Inneren der Familie spielt sich das grausame Geschehen ab, das in den Blicken ihrer Mitglieder liegt. Sie alle sitzen auf einem Pulverfass, leben in einem Druckkessel, stehen an einem Abgrund.

Als Tim sich nach einem Streit einmal von seiner Mutter Anne losreißt, über die leere abgelegene Straßenkreuzung rennt und just in diesem Moment ein viel zu schnell fahrendes Auto kommt, da schließt Anne nur die Augen und bleibt abwartend stehen. Sie tut nichts, sie agiert nicht, sie kümmert sich nicht. So, als wünschte sie sich, dass etwas passiert ist. Was ist mit dem Kind, mit Tim? Ein quälendes Bild, das die Kameraeinstellung hält. Ein Bild voller Kälte. Dann entfernt sich die Kamera, und man sieht Anne starr stehend, Tim klammert sich um ihre Beine. Sie reißt seine Arme weg und geht mit ihrem Sohn nach diesem erschreckenden Moment weiter. Sie gehen nicht miteinander, sondern ohneeinander.

Anne, einst Opfer, wird selbst zur Täterin. Eine Sequenz dieses Films, die die Tragik dieser Familie erzählt. In filmischem Minimalismus, ohne jeglichen Aufwand. Das hat etwas Bewegendes. Etwas Schockierendes.Thilo Wydra

„Tatort: Kleine Herzen“, Sonntag, ARD, 20 Uhr 15

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