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Internetsucht: 60 Quadratmeter online

Mutter und Sohn treffen sich in der virtuellen Welt häufiger als in der Wohnung. Wie Spielsucht im Internet beginnt, wohin sie führt.

131 Tage, 17 Stunden, 53 Minuten – so lange dauert es schon, das zweite Leben von Birgit Wolf*. Es ist ein Leben in einer anderen Welt. Städte heißen hier nicht Berlin, Bautzen oder Bad Oeynhausen, sondern Klippenquell, Dunkelküste oder Wald von Elwynn. Wolf ist in dieser Welt auch keine arbeitslose Fotografin, sondern die Jägerin Kiralelu, die nach Gold sucht, mit Schiffen von Hafen zu Hafen segelt. Manchmal trifft Kiralelu auf Daredevil, wenn der nicht gerade auf einem Schlachtfeld um die Ehre kämpft. Fürchten braucht sie sich nicht vor ihm. Sie kennen sich. „Der tut mir nichts“, sagt sie. Daredevil ist die Spielfigur ihres Sohnes Sebastian. Der sitzt in seinem Zimmer nebenan – zumindest im realen Leben.

60 Quadratmeter groß ist die Wohnung, in der Sebastian und seine Mutter im Berliner Stadtteil Wedding leben. Zwei Fernseher und drei Computer stehen hier. Auf zwei Rechnern läuft „World of Warcraft“ (WoW), ein Internet-Rollenspiel. Die 54-jährige Birgit spielt im Flur, der Sohn in seinem Zimmer. An manchen Tagen treffen sie sich häufiger in der virtuellen Welt als in der Realität.

Birgit Wolf will sie deshalb auch nicht kennen, die Sorgen vieler Eltern: Wie viel Computer, wie viel Internet verträgt mein Kind? Ist es schon süchtig? Nicht selten sind Mütter und Väter auch deshalb so unsicher, weil sie merken, wie wenig sie sich im Internet und mit Computerspielen auskennen. Bei Birgit und ihrer Familie ist das anders. Wenn ihr Lebensgefährte mit seiner Tochter zu Besuch kommt, sehen sie beim WoW–Spielen zu oder machen mit. Die Wolfs sind eine Familie, deren Leben um ein Computerspiel kreist. Der 14-jährige Sebastian geriet dadurch in eine Suchtspirale, aus der er bis heute nicht entkommen ist. Seine Mutter genauso wenig. „Kiralelu ist mein Lebenswerk“, sagt Birgit über ihre Spielfigur.

Bei Sebastian schlich sich der regelmäßige Fernseh- und Internetkonsum ins Leben, bevor er überhaupt in die Schule kam. „,Supersonic Warriors‘ auf dem Game Boy war mein erstes Spiel“, sagt er. Da war er fünf. Mit sieben bekommt Sebastian einen eigenen Fernseher. Für die Wolfs ist das Bildschirmflimmern zum Alltag geworden. Normalität. In Sebastians Zimmer stehen zwei Playstations, ein Nintendo 64, an den Schränken hängen Poster von Dante, einem Spielhelden, Fantasyplastikfiguren liegen herum, in den Regalen lehnen ein paar Comics. Sebastian ist ein „Geek“, ein Computerfreak.

Die Probleme fingen an, als er von der Grund- auf die Realschule wechseln sollte. „Er bekam Bauchschmerzen, hatte Durchfall und Schlafprobleme“, sagt Birgit. Er wollte zu Hause bleiben, seine Mutter ließ ihn gewähren. Er hatte nun viel freie Zeit, und er spielte. Irgendwann den ganzen Tag, acht, neun Stunden am Stück, ohne Zeitgefühl. Die virtuelle Welt wurde seine Realität. Er tappte in die gefährliche Falle, die mit dem Spiel verbunden sein kann. „Die Internet- und Spielsucht kann Probleme wie Depressionen und Ängste verschleiern und verdrängen“, sagt Oliver Bilke, Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Vivantes-Humboldt-Klinikums und des Vivantes-Klinikums Hellersdorf. Dadurch, dass sich die Betroffenen in virtuelle Welten flüchten, würden seelische Krankheiten oft gar nicht erkannt. WoW funktioniert nach dem Belohnungsprinzip. Je mehr gespielt wird, desto stärker wird der Charakter. Zwar weist Blizzard Entertainment, Entwicklungsstätte von WoW, im Spiel auch mal darauf hin, dass man das Spiel auch mal verlassen sollte, doch das System belohnt diejenigen, die am längsten spielen. Wer wenig online ist, verliert an Status. Was fasziniert Spieler so an der virtuellen Welt? „Weiß nich“, sagt Sebastian. „Dass man zusammenhält, Gilden gründet.“ Eine Gilde ist so was wie ein Verein bei WoW, zusammen wird gegen andere Gruppen gekämpft, oder man tauscht Ressourcen aus. Birgit war bereits Gildenanführerin, hundert Mitglieder zählte ihre Gruppe. Die Mutter ist fasziniert von der Grafik des Spiels. „Das erinnert an Herr der Ringe, und die ruhige Musik dazu, das hat was.“ Ihrer Figur Kiralelu hat sie das Gesicht verändert. Ein ernsterer Mund und sorgenvolle Augen sollten es sein. „So wie bei mir“, sagt sie. „Im Spiel kann ich was, da bin ich wer.“

Krieger Daredevil ist groß und muskulös. Sebastian ist auch groß, aber man sieht ihm an, dass sein Leben vor allem im Sitzen stattfindet. Sein Körper ist wuchtig, schwammig. Seine Spielfigur Daredevil trägt eine bunte Ausrüstung, lange silberne Haare, die Augen funkeln weiß und angriffslustig, zwei Hörner ragen ihm aus dem Kopf, er hält etwas in der Hand, das an eine Axt erinnert. Wenn Daredevil gerade kämpft, zappelt Sebastians rechtes Bein. Hat der Teenager Hunger, schlingt er eine Tüte Nudelsuppe hinunter, trocken, runtergespült mit Cola light. Vor ihm steht ein leerer Becher Pudding. Sebastian sitzt nach vorne gekrümmt. Er wirkt unsicher, nuschelt mehr, als dass er spricht, meidet direkte Blicke, starrt durch einen hindurch. Mit Daredevil ist er auf Level 70, genau wie die Spielfigur seiner Mutter Kiralelu. Mehr geht nicht bei WoW. Sie sind Helden in der virtuellen Welt. Von Mitspielern bewundert, von Gegnern gefürchtet, in Foren besprochen. Sicher und geborgen, wie wattiert. Im Spiel können sie alles sein, was sie im wahren Leben nicht sind.

Es entstehe ein Rauschzustand beim exzessiven Spielen, sagt Chefarzt Bilke. „Probleme können innerhalb von Sekunden vergessen werden. Sie werden in der realen Welt zurückgelasssen. Es entstehen Glücksgefühle, ähnlich wie beim Alkohol- und Cannabiskonsum oder auch bei der Kaufsucht.“ Zirka zehn Prozent der Jugendlichen unter 20 Jahren seien von Internetsucht betroffen, sagt Kerstin Jüngling, Leiterin der „Fachstelle für Suchtprävention im Land Berlin“. Die Zahl stammt aus einer Studie der Humboldt-Universität, bei der 7000 Menschen nach ihrem Internetkonsum befragt wurden. „Ich vermute, dass es viel mehr sind. Eltern bekommen es ja oft gar nicht mit, was ihre Kinder vor dem Computer tun.“ Mögliche Suchtmerkmale seien unter anderem Agressionen bei Internetentzug. „Wenn Jugendliche daraufhin ausrasten, ihre Eltern beleidigen, ihr Zimmer verwüsten, ist das ein deutliches Zeichen, dass sie süchtig sein können“, sagt Jüngling. „Sucht ist aber immer individuell. Es gibt keine Formel, die festlegt, ab wann jemand internetsüchtig ist. Das Spielen wird zum Problem, wenn es keine Alternativen mehr gibt“, sagt Bilke. Rund 30 Jugendliche, die so stark internetabhängig sind, dass sie stationär behandelt werden müssen, therapiert der Arzt im Jahr.

Fünf Monate lang geht Sebastian nicht zur Schule, Birgit geht mit ihm zum Schulpsychologen. „Er muss ja die Schule machen“, sagt sie. Sebastian kommt in eine Tagesklinik. „Da war ich nicht wegen Spielsucht, sondern wegen dem Problem mit der Schule“, sagt er. Über seine Schulangst sprechen möchte er aber nicht. Er sagt von sich selbst, er sei da, um aufzuräumen mit den Vorurteilen gegen WoW und dem Internetsuchtgerede. „Ich habe kein Problem damit, auch mal nicht zu spielen.“ Er macht es nur nicht.

Gerade geht er in die siebte Klasse einer klinikintegrierten Hauptschule. „Es ist gemütlich und familiär dort“, sagt Birgit. Er könne da wohl auch seinen Realschulabschluss machen, irgendwann. Ins Internet dürfen die Jugendlichen nicht, Handys werden eingesammelt. Gerade in der Anfangsphase sei totale Internetabstinenz das Wichtigste, sagt Bilke. Bei Sebastian aber wurde dieser Suchtkreis nie unterbrochen. Nach der Tagesklinik geht er nach Hause – und spielt. „Nach Aussage der Ärzte mache er einen voll zufriedenen Eindruck“, sagt Birgit. Seine Ärzte äußern sich nicht dazu, ob der Junge wirklich wieder gesund ist. Was tun bei einem Jungen, der sich so verschließt?

Vor dem Computer trägt Sebastian Kopfhörer, um mit anderen Mitspielern zu kommunizieren. „Der Quest gerade ist so was von fuck“, sagt einer seiner Internetfreunde. Sebastian antwortet mit „Jo“. Birgit nennt das Reden. Er habe über das Spiel neue Freunde kennengelernt. Einmal hätten sich die Jungs, zwischen zwölf und 21 Jahren, in Kassel getroffen. „Keiner war in der Zeit online“, sagt die Mutter. „Das sehe ich ja, wenn ich spiele.“

* Alle Namen, auch die der Spielfiguren, wurden von der Redaktion geändert.

Yoko Rückerl

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