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Krimi am Sonntag: Das Fenster zum Neuköllner Hof

Der Berliner "Tatort" hat sich von Alfred Hitchcocks Filmklassiker inspirieren lassen.

Wenn James Stewart, mit Gipsbein an den Rollstuhl gefesselt und als Fotoreporter im Grunde ohnehin professioneller Voyeur, zu Fernglas und Teleobjektiv greift, um auf der gegenüberliegenden Hauswand Dinge zu sehen, die er besser nicht sehen sollte, dann wird er zum Mitwisser – und der Kinozuschauer automatisch mit ihm. „Wir sind alle Voyeure“, sagte Alfred Hitchcock einmal, und schuf 1954 mit seinem Film „Das Fenster zum Hof“ die prototypische Abhandlung verschiedener Formen des Voyeurismus schlechthin.

Für diesen Berliner „Tatort“ nahm man sich nichts weniger vor, als sich explizit auf Hitchcocks Spuren zu begeben. Klaus Krämer zeichnet dabei für Regie und Drehbuch verantwortlich. Gewiss, Hitchcock zu adaptieren, zumal für einen deutschen Fernsehfilm innerhalb eines Krimi-Formats, das ist eigentlich unmöglich. Eigentlich ist das eine Anmaßung. Die große Überraschung dieses „Tatort“ mag also sein, dass dieser Fernsehfilm trotz der unüberbrückbaren Kluft zwischen dem amerikanischen Leinwand-Meisterwerk und dem deutschen Bildschirmformat ein durchaus gelungener ist.

Jeden Tag sitzt sie am Fenster zum Hinterhof und beobachtet das Geschehen in den Wohnungen auf der anderen Seite. Frau Wernicke (Barbara Morawiecz) ist alleinstehend. Einzig Krankenpflegerin Renate (Lotte Ohm) und Zivi Timo (Robert Höller) kommen täglich kurz vorbei. Dann klingelt im Kommissariat der Berliner Ermittler Ritter (Dominic Raacke) und Stark (Boris Aljinovic) das Telefon. Frau Wernicke vermutet, dass auf der anderen Hofseite ein Mord geschehen ist. Weinhändler Benkelmann (Hans-Jochen Wagner) habe seine Frau umgebracht. Sie sei sich vollkommen sicher. Als sich während der Ermittlungen herausstellt, dass Frau Wernicke in der vermeintlichen Mordnacht Hitchcocks „Das Fenster zum Hof“ im Fernsehen gesehen hat, da gehen alle davon aus, die alte Dame bringe Realität und Fiktion durcheinander. Dann tauchen Leichenteile einer Frau auf – wie bei Hitchcock. Und dann ist Frau Wernicke verschwunden …

Berlin ist nicht New York, James Stewart und Grace Kelly sind unersetzbar. Doch Klaus Krämer schafft es, den Gestus von Hitchcocks Film über das Sehen und Gesehenwerden nachzuzeichnen, zudem hat er etliche explizite Anleihen beim Original gemacht, vom eher immobilen Beobachter über die Kaninchenställe im Hof bis hin zur patenten Krankenschwester und zum skeptischem Ermittler.

Eine der dichtesten und gelungensten Sequenzen in diesem „Tatort“ ist jene, in der Kommissar Ritter nachts bei Frau Wernicke bei der Observation am Fenster sitzt und es privat wird. Frau Wernicke stellt Ritter Fragen über die Dinge des Lebens, sie kommen auf das Sterben eines Elternteils zu sprechen, bei dem er nicht dabei war. Er hat es schlicht verpasst. Das ist nicht nachzuholen. Was bleibt, sind Wehmut und die traurig-bittere Erkenntnis, nicht alles gesagt, nicht alles getan zu haben. Solcherlei gelungene Momente hat „Hitchcock und Frau Wernicke“ mehrere. Auch wenn es weiterhin schlichtweg utopisch erscheint, Alfred Hitchcock, den Master of Suspense, zu adaptieren. Er ist und bleibt ein singuläres Phänomen. Thilo Wydra

„Tatort – Hitchcock und Frau Wernicke“, Pfingstmontag, ARD, 20 Uhr 15

Alfred Hitchcock.

Leben – Werk –

Wirkung,

Suhrkamp Verlag, 2010, 160 Seiten,

8,90 €. Thilo Wydra ist Autor der zum 30. Todestag erschienenen neuen Biographie des Meisterregisseurs.

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