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TV-Doku: Besuch am „Berliner Rand“

Katis Eltern sitzen nur auf dem Sofa, Volkmar ist ins Jugendwohnheim geflohen und die Schwestern Katja und Daniela sind zeitweise obdachlos. Zuflucht bietet ihnen nur die "Arche". Eine Arte-Doku über Jugendliche in Hellersdorf.

„Was ist für dich Glück?“ Die Frage macht Kati, 18, offenbar verlegen. Nach einigem Zögern antwortet sie: „Das weiß ich nicht so wirklich.“ Vielleicht ist sie vor der Kamera nur schüchtern. Aber es könnte auch sein, dass ihr der Gedanke, Glück zu haben, geradezu abwegig erscheint. Kati lebt in Berlin-Hellersdorf, im tristen Plattenbau. In diesem Jahr hat sie sich in der Schule verbessert. Für einen Hauptschulabschluss reicht es dennoch nicht. Die Eltern und die Oma sitzen fast immer untätig im Wohnzimmer, die Mutter scheint ihren Platz auf dem Sofa gar nicht mehr zu verlassen. Sie habe 18 Geschwister, sagt Kati, aber nur zwei richtige. Als sie dank des Christlichen Hilfswerks „Arche“ an einer Fahrt in die Schweiz teilnehmen darf, umklammert sie zum Abschied ihre Gastmutter, als wollte sie sie nie wieder loslassen

Immerhin: Bei Kati sind die Eltern noch präsent. Der 16-jährige Volkmar ist von Zuhause in ein betreutes Jugendwohnheim geflohen. Die Zwillinge Katja und Daniela, 21, sind zeitweise obdachlos. Vier Heranwachsende aus Berlin-Hellersdorf, die Filmemacher Jens Becker, Professor für Drehbuch an der Filmhochschule HFF Konrad Wolf, ein Jahr lang begleitet hat. Trostlos ist dieser „Berliner Rand“, wie Becker seinen Film genannt hat, den Arte am Freitag zeigt.

Ein bisschen trostloser noch als andere Filme mit vergleichbarem Thema wie etwa „Prinzessinnenbad“ von Bettina Blümner, der 2008 den Deutschen Filmpreis erhielt. Die für „Berliner Rand“ ausgesuchten Protagonisten bieten alles, was der Durchschnittszuschauer vom Hartz-IV-Milieu erwartet: zerrüttete Familien, gescheiterte Schulkarrieren, Drogen und Kriminalität. Junge Erwachsene, die an der Rechenoperation 60 minus 6 scheitern oder nicht wissen, wieviel ein Viertelliter ist.

Was da im Einzelnen schief gelaufen ist, darüber maßt sich Becker kein Urteil an. Er bleibt konsequent in der Gegenwart der Kinder und bei ihrer Perspektive. Auch Schule und Freunde kommen nur nebenbei vor. Halt finden Kati und die anderen vor allem in der „Arche“ und anderen Einrichtungen, wo sie regelmäßiges Essen, Nachhilfe, Unterstützung bei Bewerbungsschreiben oder Freizeit-Angebote finden. Der Film wirkt auch ohne Kommentar wie ein Plädoyer für die Arbeit von Institutionen wie der „Arche“.

Im Vorspann schreibt Becker, der neben fiktionalen Stoffen auch mehrere Dokumentarfilme („Ausnahmezustand“,  „Die Kerzen von Erfurt“) realisiert hat und einst Meisterschüler von Wim Wenders war: „Drei Millionen Kinder und Jugendliche leben in Deutschland in Armut“. Der Film begleite „vier von ihnen“ durch den Alltag. Man könnte nun leicht in Versuchung geraten zu verallgemeinern: In Familien, die unter der Armutsgrenze leben, werden die Kinder vernachlässigt, scheitern die Kinder in der Schule, werden drogenabhängig und so weiter. Doch die Protagonisten bleiben keine Klischee-Typen. Der Film erzählt vier individuelle Geschichten, die die gesellschaftliche Teilung schmerzhaft belegen. Außergewöhnlich vor allem die von Volkmar, der zu einem Foto-Shooting eingeladen wird und das Interesse von Model-Agenturen weckt. Daraus wird allerdings nichts. Volkmar und die anderen bemühen sich zwar, sind jedoch häufig überfordert. Manche scheinen aufzugeben, andere nicht.

Wie Kati, die am Ende des Films ohne Vorankündigung ihre Familie verlässt und ein neues Leben beginnt. Ein hoffnungsvoller Abschluss nach vielen traurigen Einblicken. Besonders die Zwillinge kommen nicht auf die Füße. „Ich will einfach nur so leben wie ihr“, sagt Katja in keineswegs gespielter Verzweiflung zu einer „Arche“-Mitarbeiterin. Ob man den Ausdruck Klassen-Gesellschaft benutzen möchte, ist Weltanschauungssache. Tatsache ist, dass es, vom Rand aus betrachtet, ein „ihr“ und ein „wir“ gibt. Thomas Gehringer

„Berliner Rand“, 22 Uhr 35, Arte

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