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Zwei weitere Tote gab es bei diesem Schusswechsel im April in Ciudad Juárez. Doch viele mexikanische Medien blenden die Gewalt inzwischen aus, denn die Hintergründe von Organisierter Kriminalität und Korruption zu recherchieren ist gefährlich. Fast 80 Journalisten wurden in den letzten zehn Jahren getötet. Foto: Reuters

© REUTERS

Unter Lebensgefahr: Zeugen der Gewalt

Der Drogenkrieg in Mexiko kostet Tausende von Menschenleben. Wer darüber berichtet, wird selbst zur Zielscheibe.

Wenn Lucy Sosa sich durch die Bildergalerie ihres Mobiltelefons klickt, sieht sie keine Kinder, Tiere oder Urlaubsfotos, sondern ermordete Jugendliche, die mit verdrehten Körpern auf einer staubigen Straße liegen. Oder einen Mann in einer Blutlache. Alltag in Ciudad Juárez, der gefährlichsten Stadt Mexikos: „Wir finden jeden Tag drei oder vier Tote“, sagt Sosa abgeklärt, während sie die Fotos betrachtet. Als Polizeireporterin der Lokalzeitung „Diario de Juárez“ hat die 41-Jährige schon viel gesehen. Die vergangene Woche begann mit zwei Männerleichen – gefesselte Hände, Folterspuren, Plastiksäcke über dem Kopf. Am Dienstag fand die Polizei einen Kopf, einen Tag später den Rest der zerstückelten Leiche. Donnerstag: sieben Tote, darunter eine verkohlte Leiche und ein Doppelmord an Brüdern. Sosa fährt von Tatort zu Tatort, sie zählt die Toten – und versucht deren Geschichten zu erzählen. Auch wenn sie oft lacht, herzlich ist, hat sie harte Falten um den Mund, wirkt müde. „Als Journalisten sind wir Zeugen der Brutalität“, sagt Sosa am Rand einer Konferenz in Berlin.

Doch Journalisten sind in Mexiko nicht nur Zeugen, sondern auch Ziele: 140 Angriffe und Drohungen und neun Morde zählte die Journalistenvereinigung Cepet im Jahr 2010, fast 80 Journalisten wurden seit der Jahrtausendwende Opfer der Organisierten Kriminalität. In der vergangenen Woche geschah bereits der achte Mord in diesem Jahr: In Veracruz fand die Polizei die Leiche der seit Sonntag vermissten Yolanda Ordaz de la Cruz – die Polizeireporterin der Zeitung „Notiver“ war entführt, brutal gefoltert und geköpft worden. Erst am 20. Juni hatten Killer das Haus ihres Kollegen Miguel Ángel López Velasco gestürmt, den 55-Jährigen, seine Ehefrau und einen Sohn erschossen. Der Reporter war für seine Kolumne über Politik, Polizeiarbeit und Korruption bekannt. Nach dem Mord hatte die Zeitung einen Tag lang ihr Erscheinen eingestellt – ein wirkungsloser Protest.

Veracruz war bisher keiner der schlimmsten Brennpunkte des Drogenkriegs, aber auch hier spitzt sich der Konkurrenzkampf zwischen den „Zetas“, dem Golfkartell und der „Familia Michoacana“ zu, die in dem Bundesstaat operieren. Polizeireporterin Sosa berichtet aus Juárez von der gefährlichsten Front, denn die Grenzstadt in Nordmexiko ist die Hauptschmuggelroute in die USA. Das Juárez-Kartell und das Sinaloa-Kartell kämpfen hier um die Vorherrschaft, teils mit Unterstützung, teils gegen Polizei und Militär. Seit Präsident Felipe Calderón im Jahr 2006 Truppen und Bundespolizei in besonders betroffene Gebiete wie Juárez geschickt hat, ist der Drogenkrieg weiter eskaliert: Etwa 35 000 Menschen sind seitdem ums Leben gekommen, allein 8000 in Juárez – oft konkurrierende Bandenmitglieder, aber auch Polizisten und Soldaten, Zivilisten oder Journalisten. Sie könne kaum noch Radio hören, sagt Sosa, weil Schüsse und Sirenengeheul oft die Stille stören. Am schlimmsten sind für sie die Momente, in denen sie vom Tod eines Kollegen erfährt. Im Jahr 2008 wurde etwa Armando Rodríguez, einer der besten Polizeireporter der Stadt, erschossen. „Choco“, wie Freunde ihn nannten, wollte gerade seine Tochter zur Schule fahren – als er seine Mörder sah, schickte er sie ins Haus. „Es ist unfassbar, wie plötzlich ein Mord ein Leben, Träume, eine Familie zerstört“, sagt Sosa leise. Im vergangenen Jahr wurde der „Diario“-Fotograf Luis Carlos Santiago, erst 21, ermordet. Danach wandte sich die Zeitung in einem offenen Brief an die De-Facto-Macht in Juárez, die Kartelle – mit der Frage, was sie von den Medien erwarten würden. Es war eine Provokation, ein Hilferuf. „Eine Antwort gab es nicht“, sagt Sosa. Vom Staat erwartet sie keine Unterstützung: „Die Regierung existiert hier nicht, die Kartelle kontrollieren das Land.“ Oft seien gerade Polizisten die Aggressoren, viele sind korrupt. Auf Sosa haben sie schon die Waffe gerichtet, Kollegen wurden als angebliche Drogendealer inhaftiert. Viele Behörden sind von Korruption durchdrungen, die Justiz verfolgt nur wenige Morde, etwa sieben von zehn Tätern kommen ungestraft davon.

Selbstzensur ist oft der einzige Schutz, in manchen Städten berichten die Medien kaum über die Kartelle. Wenn Banden Straßenblockaden errichten und sich Schießereien liefern, informieren sich die Mexikaner über Facebook, Twitter oder die sogenannten Narcoblogs. Doch auch die Kartelle nutzen das Netz als PR-Plattform, verbreiten immer brutalere Botschaften, um Stärke zu demonstrieren. Im Internet zirkulieren Bilder und Videos von grausam zugerichteten Leichen und viele Fehlinformationen. „Medien und Blogs erzählen selten die Geschichte hinter den Morden“, sagt Sosa. Investigative Recherche leisten sich nur wenige Medien, wie das Politikmagazin „Proceso“, die Tageszeitung „Reforma“ oder die linke „Jornada“. Die anderen haben Angst, ihnen fehlen Ressourcen oder sie erhalten Schweigegeld von Staat oder Kartellen.

Anabel Hernández ist eine der bekanntesten investigativen Reporterinnen Mexikos, sie recherchiert zu Korruption – was genauso gefährlich ist wie die Arbeit von Sosa an den Schauplätzen der Gewalt. Die 39-Jährige ist eine resolute Frau, sie war 1993 Gründungsmitglied der „Reforma“-Redaktion in Mexiko-Stadt, arbeitet für das Onlinemagazin „Indigo“ und hat für ihr Buch „Los Señores del Narco“ fünf Jahre lang „im Dreck gewühlt“, wie sie sagt. In dem Bestseller deckt Hernández auf, wie der Aufstieg der mächtigen Kartellchefs durch ein korruptes Netzwerk bis in höchste Regierungskreise ermöglicht wurde. „Seit den Siebziger Jahren hatten alle Präsidenten Verbindungen zu Kartellen“, sagt die Reporterin. „Ich habe zuhause eine Liste mit vielen Namen – und es gibt noch mehr.“ Sie hat mit Unternehmern, Bankern, Politikern, Polizisten, Dealern und Kartellmitgliedern gesprochen, einige ihrer Gesprächspartner wurden während der Recherche inhaftiert oder ermordet.

Hernández weiß nie, wem sie vertrauen kann. „Es gibt Korruption auf allen Ebenen, auch Politiker, Polizei und Militär stehen teils auf der Seite der Kartelle und sind gefährlicher als diese, weil sie straflos handeln.“ Calderóns Offensive gegen die Kartelle hält sie für unaufrichtig: „Der Drogenkrieg ist kein Kampf gegen die organisierte Kriminalität, sondern ein Kampf zwischen den Kartellen, bei dem sich die Regierung auf die Seite des Sinaloa-Kartells stellt und erlaubt, dass es sich immer weiter ausbreitet.“ Nach der Veröffentlichung ihrer Enthüllungen erhielt Hernández den Hinweis, dass ein Mordkommando auf sie angesetzt sei. Seitdem zählen Personenschützer zur Familie, ein Privatleben hat sie nicht mehr. Polizeireporterin Sosa ist bisher nicht bedroht worden, aber Angst hat auch sie: „Man braucht nicht die Pistole an der Schläfe spüren, um zu wissen, dass sie uns ermorden wollen.“ Über das, was ihren beiden Kindern zustoßen könnte, möchte sie nicht nachdenken.

Für ihr gefährliches Engagement wurde Sosa etwa mit dem internationalen Journalistenpreis Vázquez Montalbán ausgezeichnet, Hernández erhielt in Mexiko unter anderem den Nationalen Journalistenpreis. Doch Ruhm ist es nicht, was die beiden antreibt. Sie riskieren ihr Leben in der Hoffnung, dass die Arbeit von Journalisten die Situation verändern kann, ein wenig, vielleicht, irgendwann. „Wir dürfen nicht feige sein“, sagt Sosa. „Wir haben die Pflicht zu berichten – denn ohne Journalisten gibt es keine Demokratie.“

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