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Sebastian Leber

© Mike Wolff

Zu PAPIER gebracht: Das große Kribbeln

Der neueste Trend im Internet: flüsternde Frauen auf Youtube. Was soll der Quatsch? Und warum reden plötzlich alle von ASMR?

Die beglückendsten Momente, die einer im Internet erleben kann, sind diejenigen, in denen man unvorhergesehen auf etwas stößt, das einen verblüfft bis fassungslos macht, das man schlicht nicht für möglich hält. Jetzt nicht Prism oder so, ich meine die erfreulichen Schocks.

Meinen zweitbeglückendsten Moment des ausgehenden Monats hatte ich beim Betrachten eines Youtube-Videos, das erklärte, wie sich Pullover oder T-Shirts mit einem einzigen Handgriff schrankgerecht falten lassen (es geht so einfach!). Den beglückendsten aber, und der übertraf meine Freude über das Faltvideo um Längen, erlebte ich vergangene Woche, als ich erstmals von einem weltweiten Trend namens ASMR erfuhr. Wobei Trend hier untertrieben scheint, treffender wäre: Über-Trend. In Nordamerika und Japan sind alle ganz verrückt nach ASMR, heißt es, nun schwappt die Begeisterung auch nach Europa.

Im Grunde klingt es so absurd, dass man es kaum glauben könnte, gäbe es nicht tausende Beweisvideos. ASMR steht für Autonomous sensory meridian response und meint das heftig angenehme Kribbeln, das Menschen beim Anhören sanft flüsternder Stimmen empfinden.

Man muss sich dieses Gefühl angeblich vorstellen wie den wohligen Schauder, den einer erlebt, der sich im Nippesladen so ein handliches Metallding mit Streben dran kauft, das aussieht wie ein unten aufgeschnittener Schneebesen, und sich das Teil von oben kommend über die Kopfhaut streicht. Bloß halt viel intensiver! Das Erleben soll so grandios sein, dass Spezialisten mittlerweile den Begriff „Ohr-Orgasmus“ verwenden, was aber andererseits auf eine falsche Fährte führt, denn diese Lust ist nicht erotisch konnotiert.

Seltsamerweise sind es durchweg junge Frauen, die sich in Videos als Einflüsterer präsentieren, die belangloses, oft unsinniges Zeug säuseln, um anderen das magische Kribbelglück zu bescheren.

Ich habe mir ein ASMR-Video angesehen und dann noch ein zweites und dann ein drittes. Spätestens danach musste ich mir eingestehen: Bei mir kribbelt nichts.

ASMR ist praktisch unerforscht

Es scheint nicht bei jedem zu funktionieren. Weil das Phänomen erst im Februar 2010 – in einem Internetforum – seinen Namen erhielt und seither kaum erforscht wurde, kennt man die biologischen Zusammenhänge nicht. Aber so, wie manche die Zunge einrollen oder mit den Ohren wackeln können und andere nicht, scheint sich die Menschheit in ASMR-Empfängliche und ASMR-Unfähige aufzuteilen.

Glaubt man den euphorischen Stimmen und den zahllosen Videos im Netz, lässt sich das sensationelle Gefühl nicht nur durch Geflüster, sondern auch durch Alltagsgeräusche wie zartes Klopfen auf Holz, Wischen mit Tüchern, Rascheln, Fingernägeltippen auf Glas oder Knistern mit Alufolie provozieren. Hauptsache, man tut es ganz sanft.

In den vergangenen Tagen habe ich mir etliche Videos angesehen. Von Frauen verschiedenster Herkunft, Stimmfarbe und Flüstertechnik. Eine blieb mir besonders in Erinnerung: die dunkelhaarige, stets melancholisch dreinblickende Frau mit dem lyrischen Pseudonym „Heather Feather“. Sie gibt sich wirklich Mühe, hat schon 75 Videos auf Youtube geladen und klimpert mitunter auf Haushaltsgeräten herum, von deren Existenz ich gar nicht wusste. Aber auch „Heather Feather“ konnte mir kein Kribbeln schenken.

Bei derart erstaunlichen Internetphänomenen muss man ja immer in Betracht ziehen, dass sie gefälscht oder schlicht erlogen sein könnten. Könnte es also sein, dass sich hunderte Frauen zusammengesetzt und zu einem Streich verabredet haben? Oder dass dies eine wissenschaftliche Studie ist, um herauszufinden, wie viel Prozent der Internetnutzer sich einreden lassen, ein Kribbeln zu empfinden? Bin ich einer gigantischen Kribbel-Verschwörung aufgesessen?

Nein, das möchte ich nicht glauben. Sollten Sie, liebe Leser, sich nach einem furiosen ungekannten Gefühl sehnen, probieren Sie es doch einmal aus. Und berichten Sie, falls es funktioniert. Einfach eine Mail schreiben an Sebastian-bei-mir-kribbelt-es@gmx.de.

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