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Afghanistan: Rambo reicht nicht

Schulen statt Bomben: Wenn die Nato in Afghanistan nicht scheitern will, muss sie ihre Strategie fundamental ändern.

Kabul, August 2008. Mit afghanischen Freunden sitze ich spätabends vor einem kleinen Fernsehgerät. Bilder eines Bombenangriffs auf das Dorf Asisabad bei Herat flimmern über den Schirm. Eine junge Frau sitzt auf dem Boden und schluchzt: „Man hat meine drei Kinder getötet.“ Ein Mann hält ein blutiges Kinderhemd hoch und sagt leise: „Das gehörte meinem Sohn. Warum haben sie ihn getötet?“ Ein Militärsprecher erklärt, die US-Streitkräfte hätten bei Herat eine Taliban-Versammlung angegriffen und 30 Terroristen getötet. Zivile Opfer habe es keine gegeben.

Wenig später telefoniere ich über einen Dolmetscher mit Gul Ahmad, einem Bewohner Asisabads. Er erzählt, er habe für seinen von den Koalitionstruppen getöteten Bruder die landesübliche Gedenkfeier organisiert. Kurz nach Mitternacht sei das Dorf bombardiert worden. Er habe 75 Verwandte verloren, auch seinen Sohn Amanullah. Das jüngste Opfer sei sechs Monate, das älteste 90 Jahre alt gewesen. Aus den Trümmern zerstörter Häuser habe man tote Frauen geborgen, die ihre leblosen Kinder umklammerten, auf die sie sich schützend geworfen hätten. Kai Eide, UN-Missionsleiter in Kabul, bestätigt einen Tag später den Tod von 90 Zivilisten, darunter 60 Kinder und 15 Frauen. Die USA dementieren weiter. Asisabad ist kein Einzelfall.

Mitte August habe ich Afghanistan und Pakistan bereist und dort mit dem afghanischen Präsidenten, Isaf-Offizieren, Ex-Talibanchefs und führenden Persönlichkeiten Pakistans gesprochen. Alle waren sich einig, dass sich die Lage in Afghanistan dramatisch verschlechtert habe. Fast immer wurden drei Gründe für den Wiederaufstieg der Taliban genannt:

1. Das ramboartige Auftreten der US-Truppen, die keinen Respekt vor der afghanischen Kultur zeigten. Bei Razzien würden Türen gesprengt, Zimmer durchwühlt, Frauen abgetastet und Männer vor ihren Familien bloßgestellt. Wie im Irak hätten sich die USA aus der Rolle des Befreiers in die Rolle des Besatzers gebombt.

2. Das Nichteintreffen der Aufbauhilfe. Das gelte besonders für den paschtunischen Süden, die Heimat der Taliban. Dort hätten sich die Verhältnisse überhaupt nicht verbessert. Die USA gäben für Militäreinsätze zehnmal mehr aus als für den Wiederaufbau.

3. Die Korruption hoher Beamter und großer Hilfsorganisationen. Bei den Menschen komme wenig an. Für einen 1500 Meter langen Metallzaun um den Kabuler Zarnigar-Park hätten ausländische Firmen 10 Millionen Dollar abgerechnet. Nach Untersuchungen der Regierung sei er maximal 70 000 Dollar wert.

Die wichtigste Erkenntnis meiner Reise war: Mit globalem Terrorismus haben die auf 30 000 Mann geschätzten Taliban- und Hezbi-Islami-Kämpfer sowie ihre kaum 1000 arabischen Mitstreiter nichts zu tun. Sie sind nationale und regionale Widerstandskämpfer und häufig brutal mordende Terroristen, aber keine global agierenden Terroristen. Afghanistan und Pakistan sind längst nicht mehr operatives Zentrum des globalen Terrorismus. Der Kampf der Taliban ist ein innerafghanischer Aufstand gegen die afghanische Regierung und gegen die Anwesenheit fremder Truppen. Ihr Ziel ist Kabul, nicht New York, Berlin, Madrid oder London. Wer diesen nationalen und regionalen Widerstand mit globalem, im Westen gegen den Westen gerichteten Terrorismus verwechselt, kämpft immer die falsche Schlacht auf dem falschen Schlachtfeld.

Die mörderischen Taliban sind auch nicht wirklich stark, sondern die afghanische Regierung ist schwach, weil die Strategie ihrer westlichen Verbündeten falsch ist. Wer Guerillas mit Flächenbombardements bekämpft, tötet stets auch Unschuldige. Das aber treibt den Rebellen immer neue Kämpfer zu. Wenn die Nato nicht das Schicksal der Mongolen, Briten und Sowjets erleiden will, die alle aus Afghanistan vertrieben wurden, muss sie ihre Strategie ändern. Die Grundlagen einer effektiven Afghanistanstrategie lauten:

Mehr Schulen statt Bomben. Die USA müssen ihre Bombardements und den Einsatz schwerer Artillerie aufgeben. Auch eine Erhöhung der Zahl ihrer Truppen würde nur die Zahl der Probleme, der Taliban und der Toten erhöhen. Die Nato muss wieder Schutztruppe zum Wiederaufbau Afghanistans werden. Das gilt auch für die Bundeswehr, die am Hindukusch lange hohes Ansehen genoss. Kein führender afghanischer Politiker erwartet von Deutschland ernsthaft mehr Truppen oder mehr Kampfeinsätze. Das sind Forderungen westlicher Geisterfahrer, die am Hindukusch die richtige Ausfahrt verpasst haben.

Ziel der westlichen Afghanistanpolitik kann nicht der Aufbau einer westlichen Demokratie sein. Der neue afghanische Staat muss ein Rechtsstaat sein, der die universalen Menschenrechte und damit die Rechte der Frauen achtet. Aber er muss eine afghanische Seele und ein afghanisches Gesicht haben. Hierfür lohnt es sich, endlich jene großzügige Entwicklungshilfe zu leisten, die der Westen nach der Vertreibung der Taliban versprochen hatte. Modellhaft sollte der Westen dort helfen, wo die Taliban noch nicht Fuß gefasst haben, in Kabul, Wardak oder Herat. Ein „Marshallplan“ für talibanfreie Regionen hätte Ausstrahlung auf das ganze Land.

Nur Afghanen können Afghanen besiegen. Wir sollten ihnen hierzu die materiellen Möglichkeiten geben. Ein afghanischer Soldat verdient im Monat 100 Dollar, ein „Talib“ mehr als doppelt so viel. Das ist häufig ein entscheidender Grund, warum sich arbeitslose junge Männer den Taliban anschließen. Außerdem können sie sich dort rühmen, sie kämpften gegen westliche Eindringlinge, während die afghanischen Soldaten gegen Landsleute und Glaubensbrüder kämpfen müssen. Gegen beide Argumente kann der Westen viel tun.

Afghanistans Präsident Karsai hat mehrfach erklärt, er sei bereit, mit den Führern der Taliban zu verhandeln. Die USA sollten ihren Widerstand dagegen aufgeben. Das gilt selbst für Gespräche mit radikalen Führern wie Mullah Omar, Haqqani oder Hekmatyar – nicht jedoch für Al Qaida. Diese Gespräche sollten auch mit dem Ziel geführt werden, das Zweckbündnis zwischen den afghanischen Taliban und den arabischen Al- Qaida-Kämpfern aufzubrechen.

Der aktuelle Versuch westlicher Politiker, Pakistan als Sündenbock für das Scheitern ihrer Afghanistanpolitik aufzubauen, ist weder klug noch fair. Zum Leidwesen der pakistanischen Regierung gibt es neben den afghanischen Taliban auch pakistanische Taliban, die aus den Stammesgebieten heraus fast täglich schwere Anschläge gegen Pakistan, ja sogar gegen dessen viel gescholtenen Geheimdienst ISI durchführen. Für die pakistanischen Taliban ist die Regierung von Islamabad Komplize der USA. Die pakistanische Armee hat inzwischen über 120 000 Mann in den Stammesgebieten aufmarschieren lassen – das ist so viel wie die gesamte afghanische Nationalarmee und die Nato in Afghanistan zusammen. Sie geht dabei mit oft großer Härte gegen die pakistanischen Taliban vor. Mehr kann von Pakistan niemand verlangen.

Ein sofortiger Abzug aller Nato-Truppen hätte chaotische Folgen. Erstrebenswert ist jedoch ein stufenweiser Abzug in drei Jahren. Er sollte im Rahmen der regionalen Friedenskonferenz und parallel zum verstärkten Aufbau der afghanischen Sicherheitskräfte erfolgen. Zurückbleiben könnte eine kleine, stabile, westlich-muslimische Friedenstruppe zur Absicherung des Wiederaufbaus des Landes. Afghanistan gehört den Afghanen. Mittel- und langfristig haben westliche Kampftruppen dort nichts verloren. Die Nato darf sich nicht länger dadurch irreführen lassen, dass die Bush-Administration allen Militäraktionen gegen Rohstoff-Länder das Etikett „Antiterrorkrieg“ aufklebt. Die „Operation Enduring Freedom“ ist eine tödliche Mogelpackung!

Der 11. September 2001 wird nicht nur als eine der größten Tragödien Amerikas in die Geschichte eingehen, sondern auch als Tag, an dem die westliche Führung aus Solidarität mit den USA ihren Verstand ausschaltete. Weltweit mag es hoch gegriffen 10 000 global agierende Terroristen geben, die – wie einst die Hamburger Terrorzelle unter Mohammed Atta – im Westen gegen den Westen agieren. Das wären weniger als 0,001 Prozent der 1,4 Milliarden Muslime.

Diese islamisch maskierten Globalterroristen haben und brauchen längst keine Trainingslager mehr. Sie trainieren in kleinen Wohnungen und im Internet. Sie leben nicht mehr vorrangig am Hindukusch, sondern mitten unter uns. Mit jeder westlichen Bombe, die in Afghanistan oder im Irak ein muslimisches Kind tötet, wächst ihre Zahl. Der globale Terrorismus ist eine Ideologie. Ideologien lassen sich nicht in Schutt und Asche bomben. Sie lassen sich nur durch eine faire und kluge Doppelstrategie überwinden. Zentrales Motiv globaler Terroristen sind die eklatanten Ungerechtigkeiten der westlichen Politik gegenüber der muslimischen Welt sowie die völlige Hoffnungslosigkeit, diese legal zu überwinden. Um diesen Ursprung des weltweiten Terrorismus zu beseitigen, muss der Westen seine ungerechte Politik in Palästina, in Afghanistan, im Irak und in anderen muslimischen Ländern fundamental ändern und die dort lebenden Muslime so fair behandeln, wie er selbst behandelt werden möchte. Der Versuch, die 0,001 Prozent globaler Terroristen mit Kriegen zu bekämpfen, wird als größte politische Torheit in die Geschichte des 21. Jahrhunderts eingehen – vielleicht aber auch als größte politische Lüge.

An einem der letzten Augusttage fahren wir von Kabul über den Hindukusch Richtung Pakistan. In einem alten Toyota-Taxi geht es über den Khyberpass hinunter zum Grenzdorf Torkham. Dort müssen wir aussteigen und unser Gepäck auf Schubkarren umladen. Die restlichen 500 Meter gehen wir zu Fuß. Wegen Terroranschlägen ist die Straße für Autos gesperrt. Kurz vor der Grenze werde ich von vier bewaffneten GIs aus der Menge herausgewunken. Sie fragen mich, was ich in Afghanistan gesucht hätte. Ich antworte, ich sei Tourist. Überrascht starren die vier mich an. Ich frage zurück, was sie hier suchten. „Das weiß ich nicht“, antwortet ihr Wortführer. „Ich weiß nur, ich hasse es.“ Dann gibt er mir mit seiner Maschinenpistole ein Zeichen weiterzugehen.

Jenseits der Grenze mieten wir ein Taxi zur Fahrt durch die berüchtigten Stammesgebiete. Auf einer holprigen Gebirgsstraße geht es vorbei an malerischen Schluchten, durch jene Gegenden, die angeblich Rückzugsgebiet des weltweiten Terrorismus und Versteck Bin Ladens sind. In der stickigen Hitze des überbesetzten Taxis gehen mir noch einmal meine Begegnungen in Afghanistan durch den Kopf. Ich denke an die Gespräche mit dem Leiter der staatlichen Versöhnungskommission, der mir mitteilte, dass inzwischen 300 Afghanen aus Guantánamo zurückgeschickt worden seien. Die Kommission habe alle Fälle sorgfältig untersucht. Über 90 Prozent der Freigelassenen seien unschuldig gewesen. Sie hätten weder bei den Taliban noch bei Al Qaida mitgekämpft. Man habe sie damals einfach mitgenommen, um der Welt Erfolge vorweisen zu können. Der Jüngste sei bei seiner Festnahme 17, der Älteste 80 Jahre alt gewesen.

Ich denke an meinen Besuch beim früheren Botschafter der Taliban in Pakistan, Mullah Zaeef. Er war 2001 durch seine Fernsehattacken gegen die US-Invasion weltweit bekannt geworden. In seiner ärmlichen Wohnung erzählte er mir, nach dem Sturz der Taliban sei er ins US-Gefängnis Bagram gebracht worden. Dort habe man ihn gezwungen, sechs Tage lang zu stehen – an Händen und Füßen gefesselt, ohne Schlaf, ohne Essen, ohne Trinken. Immer wenn er eingenickt sei, hätten die amerikanischen Wachsoldaten laut gegen leere Blechbehälter geschlagen. Einmal habe man ihn mitten im Winter so lange nackt in den eisigen Schnee gestellt, bis er bewusstlos zusammenbrach. Er sei getreten und so lange mit Gewehrkolben geschlagen worden, bis seine Schulter zersplitterte. Nach fünf Monaten Bagram sei er gefesselt nach Guantánamo geflogen worden. Vier Jahre später habe man ihn entlassen – ohne Entschädigung und ohne Begründung für seine lange Haft.

In Afghanistan weiß jeder, was Afghanen in Bagram und Guantánamo erlebt haben. Jeder hat die Rambo-Auftritte der US-Eroberer schon einmal erlebt. Jeder hat hundertfach im Fernsehen Bilder totgebombter Frauen und Kinder gesehen – und anschließend die Behauptung der Militärsprecher gehört, es habe sich um Taliban gehandelt. Ist es wirklich erstaunlich, dass sich jetzt viele Afghanen in ihrer Wut, Enttäuschung und Verzweiflung wieder den Taliban, diesen gnadenlosen, aber wenigstens afghanischen Terroristen zuwenden?

Jürgen Todenhöfer

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