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Meinung: Alle reden über die Freiheit. Wir nicht

Der SPD ist einer ihrer Grundwerte abhandengekommen: Sie bietet nur noch Mitgefühl und moralischen Relativismus

Als Willy Brandt im Juni 1987 in seiner Bonner Abschiedsrede als Parteivorsitzender von den drei Grundwerten der SPD – Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität – sprach, vergaß er nicht, hinzuzufügen, dass, wenn es zum Schwur komme, die Freiheit der wichtigste Wert sei.

Johannes Rau drückte es anders aus. Nur wenige Wochen vor seinem Tode 2006 hatte der Ex-Bundespräsident dem frisch gewählten SPD-Vorsitzenden Matthias Platzeck gleichsam als Vermächtnis mit auf dessen kurzen Weg gegeben, stets die Gleichrangigkeit der drei Grundwerte im Auge zu behalten. Offenkundig befürchtete der langjährige Landesvater Rau, die Gerechtigkeit könne gegenüber dem marktradikalen „Wildwuchs der Freiheit“ in Rückstand geraten.

Korrekterweise sei hinzugefügt, dass ähnlich wie der SPD-Generalsekretär Hubertus Heil auch sein christdemokratisches Pendant Ronald Pofalla in den vergangenen Monaten nicht müde wurde, auf Veranstaltungen zum neuen CDU- Parteiprogramm deutlich zu machen, dass es keine Hierarchie unter den Grundwerten Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität geben könne, sondern nur eine wechselseitige Bedingtheit.

Der partei- und flügelübergreifende Streit um die Freiheit hat längst die ideologische Schärfe der 70er Jahre eingebüßt. Das mag tröstlich sein. Schlimm jedoch, dass ein intellektuell gehaltvoller Freiheitsdiskurs zwischen den Extremen – der „sozialen Freiheit“ der Linken und einem bellizistisch geneigten Freiheitsfundamentalismus – gar nicht stattfindet. Vormals stand die Freiheits- oder genauer: Befreiungsemphase der Linken bei Konservativen im Verdacht der Libertinage von ’68. Umgekehrt wurde das Freiheitspathos der Konservativen vom politischen Gegner gern auf Antikommunismus und Unternehmerwillkür reduziert. In den 80er Jahren mäßigte sich der politische Freiheitsdiskurs zum Streit über „mehr oder weniger Staat“.

In der Angst vor einer Wertehierarchisierung schwingt offenbar immer auch eine Ahnung vom berechtigten Vorrang der Freiheit mit. Deshalb mag einem die Forderung nach einem penibel einzuhaltenden Hierarchieverzicht wie eine deklamatorische Mogelpackung vorkommen, bei der es in Wahrheit um den angstbesetzten Wunsch geht, die Freiheit wegen der ihr gewiss auch innewohnenden Gefahrenpotenziale zurückzudrängen.

Vor allem in der Sozialdemokratie und deren staubtrockenem intellektuellen Umfeld ist der Freiheitsdiskurs schon lange keine große Sache mehr. Im neuen Programmentwurf zum Hamburger Parteitag in der kommenden Woche finden sich dazu nur pflichtschuldige Statements. Die Balancen zwischen Freiheit und Gerechtigkeit oder Freiheit und Sicherheit werden nicht mehr durchdacht. Auch der moralische Grundsatz, dass die Freiheit ohne Erinnerung nicht auskomme, scheint einem neuen Geschichtsrelativismus von links geopfert zu werden.

Freiheit und Gerechtigkeit: Die agendageschüttelte Krisenpartei SPD möchte von der Mahnung ihres langjährigen Vorsitzenden Willy Brandt heute nichts mehr wissen. Denn sie reduziert ihr Freiheitsverständnis fast vollständig auf eine Teilhabegerechtigkeit, die sie in Anlehnung an einen Begriff des Philosophen Isaiah Berlin „soziale Freiheit“ nennt und sich dabei auf die Menschenrechtscharta beruft. Demnach drohen die Lockerung des Kündigungsschutzes und die Einführung von Studiengebühren wie Schicksalsfragen der Nation behandelt zu werden.

Natürlich ist nicht zu leugnen, dass sich die Balance zwischen Freiheit und Gerechtigkeit durch die grenzensprengende Globalisierung verschoben hat. Einerseits haben die neuen Entwicklungen enorme Freiheitsmöglichkeiten gebracht. Gleichzeitig sind aber neue Ungleichheiten in einem bislang nicht gekannten Ausmaß entstanden.

Was Wunder, dass durch die notbestimmte Dominanz des Sozialen sich ein Perspektivenwechsel in der Politikbetrachtung – zulasten der Freiheit – durchzusetzen droht. So ist unübersehbar, dass gerade in Zeiten einer hysterisch rezipierten Globalisierung moralische Konzessionen gemacht werden gegenüber Diktaturen oder unfreiheitlichen Tendenzen.

Um dies an drei aktuellen Beispielen zu erläutern: So hat ein neuer lateinamerikanischer Regent des „Sozialismus im 21. Jahrhundert“, der Pausenmilch auf den Schulhöfen einführt, gute Chancen, dass man ihm im Gegenzug das Verbot von Oppositonssendern durchgehen lässt. Das Lob der Volksküche hat hier gleichsam Isaiah Berlins Kategorie von der „negativen Freiheit“, also der Freiheit von staatlicher Bevormundung, überwunden. Kaum zu glauben, dass wieder Fidel-Castro-Plakate die Wände in Abgeordnetenzimmern zieren. Der schwer erkrankte „Maximo Lider“ darf neuerdings mit Durchhalteboni rechnen, in Rekorddauer dem US-Imperialismus getrotzt zu haben. Die Frage, um welchen Preis und zu wessen Lasten von Genererationen und deren Lebenschancen dies geschah, wird dabei nicht mehr gestellt.

Längst ist man geneigt, im chinesischen Staatsgründer Mao Tse- tung nicht nur einen Machtmenschen und Massenmörder zu sehen, sondern einen großen Zukunftsgestalter und Strukturerneuerer.

Und im Libanonkonflikt traute man seinen Ohren nicht, als es hieß, dass die Hisbollah nicht nur eine Terrororganisation sei, sondern sie auch ein vorbildliches soziales Netz aufgebaut habe, zum Beispiel für die Hinterbliebenen von Selbstmordattentätern.

Überhaupt ist zu beobachten, wie im Namen eines interkulturellen Dialogs alles plattgemacht werden soll, was sich an störenden Texten und Taten, Zeichnungen und Zitaten der angestrebten Vereinheitlichung in den Weg stellt. So war beim Karikaturenstreit im Frühjahr 2006 unter Linken das Mitgefühl für die verletzten muslimischen Empfindungen größer als die Bereitschaft, die Pressefreiheit vor fundamentalistischer Randale zu verteidigen.

Freiheit und Sicherheit: Große Gefahren für die Freiheit gehen aber nicht nur mit der globalisierten Wirtschaft, sondern ebenso mit der weltweiten Terrorismusgefahr einher. Dabei hat sich die Perspektive auf die Individualrechte bei der Bekämpfung von Terror dramatisch verschoben. Früher verfügte die Sozialdemokratie über eine stattliche Reihe von Kronjuristen und Bürgeranwälten – von Adolf Arndt über Gustav Heinemann bis Diether Posser –, die sensibel genug waren, Tendenzen im Kontext des Sicherheitsdispositivs zu erkennen, unter denen die Eigenständigkeit freiheitlicher Rechtsnormen behaupteten Machterfordernissen geopfert werden. Jüngst mussten sich die Karlsruher Verfassungshüter indes auch von sozialdemokratischer Seite den nassforschen Vorwurf der Weltfremdheit gefallen lassen, wenn sie der Legalisierung von Folter, der „Lizenz zum Töten“ im Luftsicherheitsgesetz oder dem großen Lauschangriff einen Riegel vorschieben. Die Auffassung von Sozialdemokraten wie Tony Blair und Otto Schily, dass die Sicherheit die „erste Freiheit des Bürgers“ sei, hat bei den noch vorhandenen Bürgerrechtlern das blanke Entsetzen hervorgerufen. Denn die ganze Sicherheit taugt in deren Augen nichts, wenn sie um den Preis der Freiheit erkämpft wird.

Der 80-jährige Rechtslehrer und früheres Mitglied des Bundestages Claus Arndt, ein Sohn des SPD- „Kronjuristen“ Adolf Arndt, gehört zu den einsamen Stimmen in der Sozialdemokratie, die sich eine Perspektive auf die Bewahrung der Bürgerrechte erhalten haben. Er macht das scheinheilige Spiel nicht mit, zwischen Schily und Schäuble einen rechtsstaatlichen Bruch oder qualitativen Sprung festzustellen: „Die Schily-Schäuble’sche Politik besteht doch aus lauter kleinen Schritten, die Freiheitsgrenzen auszutesten. Dabei wird selbst bei manchen kleinen Schritten schon die Grenze des Zulässigen überschritten. Aus der Summe dieser kleinen Schritte ergibt sich ein ganz negatives Bild. Ich bin entschieden gegen diese tausend kleinen Schritte, an deren Ende unser Staat völlig umgekrempelt dastehen würde.“

Freiheit und Erinnerung: Es sei nicht alles schlecht in der DDR gewesen, verkündete jüngst SPD-Generalsekretär Heil, als sich ein konservativer Kritiker bei der Kinderbetreuungsoffensive der Familienministerin von der Leyen an den generellen Krippenanspruch im SED-Staat erinnert fühlte.

Wenn nicht alles täuscht, kommen die Geschichtsrelativierer nicht mehr von rechts. Die Forderung, einen Schlussstrich unter die Geschichte zu ziehen, ist mittlerweile auch zur Sache der Linken geworden. So häufen sich die Relativierungen der DDR-Historie als Teil einer sozialpsychologischen Entlastung des ökonomisch darbenden Ostdeutschland. Die Skala ist breit, sie reicht von der immer noch gern zitierten Forderung der unvergessenen brandenburgischen „Mutter Courage“, Regine Hildebrandt, „die Vorteile zweier Systeme miteinander zu verbinden“, über die peinliche Verzögerungspartie um die Berliner Ehrenbürgerschaft Wolf Biermanns, die Entlastung der späten DDR vom Stalinismusvorwurf durch den Ex-Regierenden Bürgermeister Walter Momper bis hin zum grassierenden Unmut über die Arbeit der Birthler-Behörde. Deren interne Ungereimtheiten kommen denjenigen gerade recht, die die Aufarbeitung des Stasistaates schon immer als ein psychologisches Hindernis auf dem Weg zur mentalen Einheit Deutschlands empfunden haben.

In solchen Bewertungen wird nicht mehr der Unterschied ums Ganze verhandelt, also zwischen demokratischen Verhältnissen und Gewaltherrschaft, sondern positivistisch geglättet und pragmatisch aufgerechnet zwischen Vor- und Nachteilen im Alltag. Moralische Beliebigkeit wird hier mit analytischer Differenziertheit verwechselt.

Komplementär dazu ist die Tendenz zu beobachten, wie die Welt der Globalisierung unter Verwendung moralischer Kategorien dämonisiert wird, mit denen früher nur Diktaturen gegeißelt wurden. Johano Strasser spricht sicher der Mehrheit der Linken aus dem Herzen, wenn er eine Welt nach den Vorstellungen der „Propagandisten des Neoliberalismus“ für „nichts als Barbarei“ hält. Der moralische Verdammungsimperativ des Barbarischen, den man sich vormals für Potentaten wie Franco, Salazar oder Pinochet aufbewahrt hatte, muss also hier bereits für die raue Realität zwischen Heuschrecken, Sozialdumping und Frank Lehmanns Äppelwoi- Börsenberichten vor der Tagesschau herhalten.

Derlei analytische Grobschlächtigkeit verschafft der Relativierung von Geschichte wie der moralisch entlastenden Historisierung von Diktaturen raschen Zugang. So dass sich die provokante Frage aufdrängt, wann endlich Hitlers Autobahnen der verdiente Platz im „Reich der sozialen Freiheit“ zugewiesen wird.

Das Eintreten für die Freiheit setzt die Bereitschaft und Fähigkeit voraus, eine eigene Position auch dort zu vertreten, wenn man damit allein steht: „Tätige Freiheit will gelernt sein“, sagt Ralf Dahrendorf. Lernt man sie nur auf dem existenziellen Prüfstand – in der Emigration wie Willy Brandt, in der Diktatur wie Vaclav Havel oder im Krieg wie Lew Kopelew oder Helmut Schmidt? Trotz aktueller Gefährdungen der Freiheit befinden sich deren Verteidiger in der Defensive. Lautstarke Sozialdemokraten sind darunter leider nicht mehr auszumachen. Nicht weil sie plötzlich zu Gegnern der Freiheit geworden wären, sondern weil sie glauben, dass für die „negative Freiheit“ mit dem Niedergang der kommunistischen Diktaturen bereits ausreichend gesorgt sei und es nur noch darauf ankomme, die „positive“ oder „soziale Freiheit“ vor dem Schicksal einer alles verschlingenden Globalisierung zu retten. Wer aber vollmundig die programmatische Gleichwertigkeit der Freiheit neben der Gerechtigkeit und Solidarität deklamiert, betreibt in Wahrheit deren Nachrangigkeit.

Norbert Seitz

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