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Arbeitslosengeld: Arm durch Arbeit

An 80 Prozent der Erwerbstätigen geht der Aufschwung vorbei. Warum Arbeitnehmer die Melkkühe des Staates sind.

Für den SPD-Chef war es bloß „ein Detail“, im politischen Berlin aber löste es ein mittleres Erdbeben aus. Mit seinem Vorschlag, das Arbeitslosengeld für Ältere länger auszuzahlen, hat Kurt Beck quasi über Nacht die Szenerie der Hauptstadt verändert. Die Koalition hat ein neues Streitthema, die SPD schart sich wieder gläubig hinter ihren Vorsitzenden, und Becks parteiinterne Rivalen von Peer Steinbrück bis Franz Müntefering sind auf Untergebenenniveau zurechtgestutzt.

Vor allem aber hat der SPD-Vorsitzende seiner Partei endlich wieder ein Thema beschert, bei dem er eine Mehrheit der Deutschen hinter sich weiß. Mehr als drei Viertel der Bevölkerung unterstützen seinen Vorstoß, so zeigen Umfragen, und die Basis der Sozialdemokraten begrüßt den Plan nahezu einhellig als längst überfällige Korrektur der ungeliebten Agendapolitik.

Es geht um mehr als ein paar zusätzliche Wochen Stempelgeld und die Hackordnung in der SPD. Es geht um das bundesdeutsche Parteiengefüge, in dem die Sozialdemokratie zwischen Linkspartei und einer in die Mitte strebenden CDU zerrieben zu werden droht. Es geht um den gesellschaftlichen Zusammenhalt, den die meisten Deutschen nach den Reformen der vergangenen Jahre für schwer gestört halten. Es geht um die Glaubwürdigkeit der großen Koalition, die das Festhalten an der Agenda 2010 einst zum festen Bestandteil ihres Gründungskapitals zählte.

Nun hat Beck die alte Schlachtordnung durcheinandergewirbelt, und in der politischen Landschaft zeigen sich allerorten die Kollateralschäden. Die Reformer in der SPD, die noch vor wenigen Wochen die hohe Theorie des „vorsorgenden Sozialstaates“ predigten, schlagen sich beim ersten Praxistest kleinlaut in die Büsche. Die Linkspartei, deren Programm die SPD noch vor kurzem als unfinanzierbar und populistisch gegeißelt hatte, darf sich als Sieger der Geschichte fühlen. Und in der CDU bekommen jene Kräfte um den nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers Auftrieb, deren politische Strategie darin besteht, die SPD so oft wie möglich links zu überholen.

Gefühlte Gerechtigkeitslücke
Die politischen Gewichte verschieben sich, und in den Chefetagen der Volksparteien stellt sich ein verunsichertes Führungspersonal bange Fragen: Hat Beck recht, wenn er die mühsam durchgesetzten Reformen bei der Rente oder am Arbeitsmarkt wieder zurückdrehen will? Gingen die Einschnitte der Agenda 2010 tatsächlich zu weit? Was ist dran am Gefühl sozialer Ungerechtigkeit, das sich derzeit wie eine Lehmschicht über das Land legt?

Die Antwort fällt differenziert aus. Wer die Konsequenzen des neuen SPD-Plans und die Einkommensentwicklung in der Bundesrepublik nüchtern analysiert, kommt zu dem Ergebnis: Becks Vorschlag ist falsch, das Thema aber ist richtig.

Denn was Ökonomen gern als „gefühlte Gerechtigkeitslücke“ abtun, ist in Wahrheit das Hauptproblem für das soziale Gefüge im Land: In den vergangenen zwei Jahrzehnten ist ausgerechnet jene Schicht ins Hintertreffen geraten, die Union und SPD gern als Stammklientel für sich reklamieren. Wie keine andere Bevölkerungsgruppe haben die Arbeitnehmer Abstriche hinnehmen müssen: an ihren sozialen Besitzständen genauso wie am Ertrag ihrer Arbeit.

So sind die Einkommen der Beschäftigten seit Mitte der achtziger Jahre praktisch nicht mehr gestiegen. Von einem „Nettolohnskandal“ schrieb jüngst die „Bild“-Zeitung und setzte die ökonomische Lage der Arbeitnehmer in dicken Lettern auf ihre Titelseite.

Nicht zu Unrecht. Um ihre Jobs zu sichern, haben viele Beschäftigte jahrelang auf Lohnzuwachs verzichtet. Ihre geordnete Arbeitswelt der siebziger und achtziger Jahre mit Betriebsrenten und Jahressonderzahlung ist nicht selten einem unternehmerfreundlichen Paralleluniversum aus Zeitarbeit, Minijobs und Scheinselbstständigkeit gewichen. Gewerkschaften haben in weiten Bereichen der Wirtschaft kaum noch etwas zu sagen, Tarifverträge gelten oft nur noch für eine kleine Arbeiterelite in Großkonzernen und exportstarken Industriebranchen. Und selbst wenn IG Metall und Co. einmal ansehnliche Abschlüsse herausholen wie in diesem Jahr: bei der Masse der Arbeitnehmer kommt immer weniger davon an.

Zugleich haben die Reformen der zurückliegenden Jahre das einst dicht geknüpfte soziale Netz durchlöchert. Boten die gesetzlichen Versicherungssysteme den Arbeitnehmern früher eine Art Vollkaskoschutz gegen alle Lebensrisiken, garantieren sie heute vielfach nur noch ein Minimalprogramm. Das Arbeitslosengeld: gekürzt. Die Arbeitslosenhilfe: abgeschafft. Die Altersversorgung: zur Schrumpfrente zusammengestrichen. Die Krankenversicherung schließlich bietet nur noch demjenigen eine angemessene Versorgung, der bereit ist, aus eigener Tasche kräftig zuzuzahlen.

Das Sozialsystem entartete so zum Gegenmodell für die erfolgreiche Geiz-ist-geil-Wirtschaft aus der Werbung: Das Leistungsniveau wurde heruntergefahren, der Preis stieg trotzdem. Zwischen 1990 und 2005 kletterten die Sozialabgaben für Beschäftigte und Betriebe in die Höhe – und gingen im jüngsten Konjunkturaufschwung nur mäßig zurück.

Die goldenen Jahre sind vorbei
Als Konsequenz ist die Abgabenlast der Beschäftigten steil angestiegen, zumal auch der Fiskus hierzulande übermäßig stark auf Arbeitseinkünfte zugreift. Das Ergebnis zeigt die internationale Finanzstatistik: Kaum eine andere Industrienation beschwert den Faktor Arbeit stärker mit Steuern und Sozialbeiträgen als Deutschland. Die rekordhohe Abgabenlast bedeutet nicht nur eine schwere Hypothek für Arbeitsmarkt und Beschäftigung. Sie treibt nicht nur Arbeitsplätze aus dem Land und bringt hunderttausende von Beschäftigten dazu, aus den Sozialsystemen zu flüchten. Sie verstärkt auch jene Schieflage, die das hiesige Sozialsystem schon seit Jahrzehnten kennzeichnet: Während Arbeitnehmer per Gesetz in die staatlichen Sozialkassen gezwungen sind, dürfen sich privilegierte Berufsstände ausklinken.

Selbstständige und Freiberufler haben eigene Rentenkassen und können alle Schlupflöcher des hiesigen Einkommensteuersystems nutzen. Staatsdiener erhalten Anspruch auf eine Luxusversorgung aus der steuerfinanzierten Beamtenkasse. Die Topverdiener unter den Angestellten dürfen sich in die private Krankenversicherung verabschieden und sind nur mit denjenigen Einkommensteilen am Sozialsystem beteiligt, die unterhalb der sogenannten Bemessungsgrenze liegen. Kapitalbesitzer, Vermieter und Aktionäre genießen zahlreiche Steuervorteile sowie das Privileg, dass ihre Einkünfte überhaupt nicht von den Solidarsystemen erfasst werden.

Doch nicht nur Unternehmer und Immobilienbesitzer sind privilegiert, auch die Empfänger sozialer Leistungen schneiden in vielfacher Hinsicht besser ab als diejenigen, die ihre Einkünfte finanzieren: Die aktuelle Rentnergeneration braucht so gut wie keine Steuern zu bezahlen und profitiert davon, dass ihre Rentenansprüche aus den wirtschaftlich goldenen sechziger und siebziger Jahre stammen. Und selbst Hartz-IV-Empfängern werden bei einer Reihe von Sozialleistungen Vergünstigungen gewährt, die für Arbeitnehmer nicht vorgesehen sind.

Alle Nachteile dagegen konzentrieren sich auf die 80 Prozent Erwerbstätigen, die einem sozialversicherungspflichtigen Job nachgehen und keinen Spitzenverdienst nach Hause bringen. Sie müssen auf ihren gesamten Lohn Sozialbeiträge zahlen und haben kaum Möglichkeiten, sich vor dem Finanzamt künstlich arm zu rechnen. Sie zahlen den Großteil ihres Krankenkassenbeitrags als Solidarleistung für andere Versichertengruppen. Sie dürfen ihre Steuern und Abgaben nicht einmal selbst abführen.

Und so ist es kein Wunder, dass die Arbeitnehmer in den vergangenen Jahren finanziell schlechter abgeschnitten haben als andere soziale Schichten. Eine Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung zeigt: Selbstständige, Rentner und Pensionäre haben ihre Einkommensposition in den vergangenen zwei Jahrzehnten gesteigert. Bei den abhängig Beschäftigten dagegen stagnierten im Schnitt die Einkünfte.

Dass sich ein Großteil der Lohnempfänger heute mit guten Gründen als Verlierer der ökonomischen Entwicklung sehen muss, bringt mehr aus dem Gleichgewicht als nur die Verteilungsstatistik. In den Nachkriegsjahrzehnten gehörte es zum gesellschaftlichen Grundkonsens, dass der gemeinsam geschaffene Reichtum auch den Arbeitnehmern zugutekam. „Wohlstand für alle“ hieß das Motto Ludwig Erhards, dessen Zugkraft gerade darin begründet war, dass es nicht nur ein Höchstmaß an wirtschaftlichem Fortschritt, sondern auch an gesellschaftlicher Gerechtigkeit versprach.

Heute dagegen erleben die Beschäftigten, dass sie gegenüber anderen gesellschaftlichen Gruppen anhaltend an Boden verlieren. Die Gewissheit der Nachkriegsgesellschaft, dass jeder mit Fleiß und Einsatzbereitschaft sein Glück machen kann, ist für viele Arbeitnehmer zum leeren Versprechen geworden.

Ausbeutung der Mittelklasse

Kein Wunder, dass der Frust unter den eigentlichen Leistungsträgern der Republik beständig wächst. Ausgerechnet die gesellschaftliche Mittelklasse, die sich früher eines beständig wachsenden Wohlstands sicher sein durfte, fühlt sich heute ausgebeutet und an den Rand gedrängt. Selbst im aktuellen Konjunkturaufschwung, so zeigen Umfragen, grassieren unter den Beschäftigten Abstiegssorgen und Zukunftsängste.

Während das Ausland das Comeback der Konjunkturlokomotive Deutschland feiert; debattieren die Bundesbürger fünf Jahre nach Hartz-Reform und Agenda 2010 vor allem über die sozialen Verhältnisse im Land. Die Linkspartei will mit ihrem Kampf gegen Rentenkürzungen und Hartz IV den Wohlfahrtsstaat der siebziger Jahre wiederherstellen. Die SPD schwankt, ob sie sich zu ihren eigenen Sozialreformen bekennen oder sich besser von ihnen distanzieren soll. Und die CDU ersetzt ihre radikalen Reformrezepte aus dem zurückliegenden Bundestagwahlkampf durch den inflationären Gebrauch des Begriffs „Sicherheit“, den die Parteistrategen derzeit so zahlreich über ihre Programmpapiere streuen wie früher die Warnungen vor der roten Gefahr.

Um den politischen Druck aus der Debatte zu nehmen, erscheint es nur folgerichtig, wenn SPD-Chef Beck den gebeutelten Arbeitnehmern nun wenigstens wieder ein Stück Sicherheit geben will. Was kann falsch daran sein, die Leistungen an Arbeitslose etwas zu erhöhen und schwer schuftende Malocher wieder früher in Rente zu schicken?

Vor allem dies: Finanziert würden die Wohltaten nicht von den Bessergestellten und Privilegierten dieser Republik, sondern von jüngeren Arbeitnehmern, denen es oft nicht besser geht als ihren älteren Kollegen. Schlimmer noch, die heute 20- oder 30-Jährigen müssten überproportionale Lasten schultern, weil der Anteil der Älteren an der Bevölkerung weiter steigt.

Schieflage

Wer die Unwucht zuungunsten der Arbeitnehmer beseitigen will, muss deshalb an anderer Stelle ansetzen: Er muss die Schieflage des hiesigen Sozialsystems beseitigen. Es gilt, die Sozialkassen so umzubauen, dass sie künftig allen Erwerbstätigen die gleichen Rechte und Pflichten geben. Es gilt, einen größeren Teil des Wohlfahrtsstaates über Steuern zu finanzieren, zu denen alle Bürger beitragen. Es gilt, die übermäßige Abgabenlast der Arbeitnehmer zu senken.

Hier läge die eigentliche Aufgabe der großen Koalition, doch hier hat sie kläglich versagt. Nach Mehrwertsteuer-Erhöhung, Gesundheitsfonds und Pflegereform liegt die Abgabenlast der Arbeitnehmer heute höher denn je.

Daran würde auch der Beck-Vorschlag nichts ändern. Im Gegenteil: Nach Berechnungen der Bundesregierung würde sein Konzept zwischen ein und zwei Milliarden Euro kosten. Wird es umgesetzt, müssten erneut diejenigen die Zeche zahlen, die der Staat ohnehin schon als Melkkühe behandelt: die beitragzahlenden Arbeitnehmer.

Michael Sauga

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