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Meinung: Auf der Umgehungsstraße

Die Familienpolitik in Deutschland ist orientierungslos – darunter leidet der Nachwuchs

Von Antje Sirleschtov

Das Land, in das der kleine Juri am Anfang dieser Woche geboren wurde, ist ein stolzes Land der Weltmeister. Niemand exportiert mehr Maschinen, keiner stellt berühmtere Autos her, nirgendwo sonst gibt es größere Windräder. Und wie breit gestreut der Wohlstand in Deutschland ist, kann jeder ermessen, der offenen Auges die gepflegten Vorgärten und frisch verputzten Häuschen in den heimischen Wohnsiedlungen mit der Situation in anderen Industrienationen vergleicht.

Nur, wenn es um die Lebensbedingungen von Kindern geht, muss sich Deutschland seit Jahren hinter seinen Nachbarn verstecken. Den städtischen Buddelkasten wird sich der kleine Juri demnächst mit Hunden teilen müssen, während das Ordnungsamt zur gleichen Zeit vor dem Zaun Falschparker notiert. Eine Kitaanmeldung hat die Mutter bestenfalls schon vor der Geburt abgegeben. Und für eine ordentliche Schule werden die Eltern vielleicht sogar den Wohnort wechseln müssen. Mittelmäßig nennt die jüngste Unicef-Studie diesen Umgang der deutschen Gesellschaft mit ihren jüngsten Mitgliedern. Und beschreibt damit einmal mehr, was die meisten täglich erleben: Kinder haben keinen Vorrang in Deutschland.

Dass die großen Volksparteien die Familienpolitik nun für sich erkannt haben und fleißig an eigenen Konzepten arbeiten, ist so positiv wie überfällig. Allerdings täuscht die geräuschvolle Geschäftigkeit in den Parteizentralen darüber hinweg, wie wenig bisher passiert ist. Bürgermeister weihen auch heute noch lieber Gewerbegebiete und Umgehungsstraßen ein, als Schulen zu gründen. Und Gewerkschafter gehen für Kindergärten nur dann auf die Straße, wenn das Urlaubsgeld der Angestellten bedroht ist. Für Kinder streikt niemand.

In welcher Realität sich Familien bewegen und welche Bedürfnisse Kinder haben, ist in der Mitte der Gesellschaft noch lange nicht angekommen. Da wird in der Bundeshauptstadt wochenlang darüber debattiert, ob Erzieherinnen mit ihren Kindern kostenlos die kommunalen Schwimmbäder besuchen dürfen und andernorts nutzt man die Einführung der steuerlichen Berücksichtigung von Betreuungskosten prompt zur Anhebung der städtischen Kitagebühren. Als Schildbürgerstreiche könnte man solch Tun verniedlichen, gewiss. Wenn nicht eine gefährliche Haltung dahinterstehen würde. Ausdruck einer familienpolitischen Orientierungslosigkeit, die bisweilen sogar zum „Nun ist aber mal genug!“ ausartet. Was gerade erst geschehen ist, als konservative Unionskreise einen deutschlandweiten Aufbruch bei der Schaffung zusätzlicher Kinderbetreuungsinvestitionen mit einem „Rückfall in die DDR“ diffamierten. Ganz so, als ob die flächendeckende Versorgung längst Realität sei und man nun ein Überangebot abzuwehren habe. Ein Missverständnis von Realität, dem im Prinzip auch die SPD aufsitzt, wenn sie ihre Familienpolitik unter das Motto „Weniger arme Familien finanzieren ganz arme Familien“ stellt. Weltmeisterliche Politik für Kinder sieht anders aus.

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