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Demonstration gegen Präsident Saied in Tunis

© Getty Images / NurPhoto via Getty Images

Autoritäres Regime in Tunesien: Frauenrechte werden zurückgedreht

Einst war das Land für seine relative Gleichstellung bekannt. Jetzt schafft Präsident Saied nicht nur die Parität auf Wahllisten ab. Lokale Aktivisten brauchen Unterstützung. Ein Gastbeitrag.

Von Sara Medini

Als ich aufwuchs, war ich von der Gleichstellung der Geschlechter in der tunesischen Gesellschaft überzeugt. Erst als Erwachsene wurde mir klar, dass es ein fragiles Gefüge ist – dessen Einsturz ich später beobachten konnte.

Ich bin in einer weltoffenen Familie aufgewachsen und wurde Feministin, ohne darüber nachzudenken, was das konkret bedeutet. Mein Vater, ein Ingenieur, und meine Mutter, eine Lehrerin, erzogen meinen Bruder und mich als gleichwertige Menschen. Ich habe Jura studiert und mir Fachwissen über die Rechte von Frauen angeeignet. Unsere Freiheit hielten wir für selbstverständlich.

Die Politikberaterin Sara Medini
Die Politikberaterin Sara Medini

© privat

Vielen ist nicht klar, dass die Freiheit der tunesischen Frauen stark bedroht ist. Die Proteste im Iran werfen ein Schlaglicht auf die Unterdrückung von Frauen – die internationale Gemeinschaft sollte aber auch den Kampf der Tunesierinnen und Tunesier, das beste Gleichstellungsmodell in der Region zu verteidigen, wahrnehmen und unterstützen.

Einst war Tunesien das Vorzeigeland in Nordafrika

Tunesien mag lange Zeit als das fortschrittlichste und feministischste Land im Nahen Osten und in Nordafrika dagestanden haben, einer Region, in der patriarchale Systeme endemisch und dominierend sind. Zugleich aber hat das Land in kurzer Zeit beispiellose und schwerwiegende Verstöße gegen die Rechte der Frauen erlebt.

Im Jahr 2011 stürzte das tunesische Volk einen Diktator, und ein Traum wurde Wirklichkeit. Das hat in der gesamten arabischen Welt das Verlangen nach Demokratie bestärkt hat und ein Jahrzehnt voller Fortschritte und Rückschläge mit sich gebracht. Am Ende aber wurde der glühende Optimismus vieler Menschen durch die bittere, realistische Erkenntnis verdrängt, dass sie fast alles verlieren könnten.

Präsident Kais Saied gelang es, alle Macht in seinen Händen zu bündeln, seine Regierung aufzulösen, per Dekret zu regieren, die Gewaltenteilung abzuschaffen und die Menschenrechte sowie die Rechte der Frauen zu schwächen.

Der Präsident beschneidet die Errungenschaften der Frauen

Der Präsident hat Wahlreformen erlassen, die das gesamte politische Klima für mindestens die nächsten fünf Jahre prägen werden und die einen Rückschritt für die verfassungsmäßigen Errungenschaften von Frauen in Tunesien bedeuten: Die Verpflichtung zur Einhaltung der Geschlechterparität bei der Besetzung hoher Ämter wurde aufgehoben; die Regierung hat es versäumt, internationale Texte zum Schutz von Frauen vor Gewalt zu ratifizieren, wie die Istanbul-Konvention gegen häusliche Gewalt.

Und schließlich sind einige diskriminierende Rechtsvorschriften noch immer nicht reformiert worden – ungleiche Erbschaftsverhältnisse oder die Kriminalisierung von Frauenprostitution und von gleichgeschlechtlichen Beziehungen.

Das am 15. September verabschiedete neue Wahlgesetz gewährleistet keine paritätische Aufstellung auf den Wahllisten mehr: Ein Erlass, der einst die Teilnahme von Frauen an den Wahlen sicherstellte, wurde außer Kraft gesetzt. Bei den Kommunalwahlen 2018 erhielten Frauen 47 Prozent der Sitze. Nun besteht für Parteien keine Verpflichtung mehr, Kandidatinnen aufzustellen. Dies verstößt gegen die tunesische Verfassung, die den Staat zur paritätischen Besetzung der gewählten Volksvertretungen verpflichtet.

Der kleine nordafrikanische Staat wurde lange Zeit von internationaler Seite für seine fortschrittlichen Geschlechterreformen gelobt. Nachdem das Land 1956 die Unabhängigkeit von Frankreich erlangt hatte, wurde ein Gesetzeswerk geschaffen, das Frauen in einem gewissen Umfang schützte und dazu beitrug, dass Tunesien den Ruf eines radikal feministischen Landes bekam.

Im selben Jahr verabschiedete der damalige Präsident Habib Bourguiba das Personenstandsgesetz, das weitreichende Reformen wie das Verbot der Polygamie (noch heute ist Tunesien das einzige mehrheitlich arabische Land, in dem dies der Fall ist) und ein gerechteres Scheidungsrecht einführte. 1973 wurde hier die Abtreibung unter sämtlichen Gegebenheiten legalisiert, und damit ist Tunesien bis heute der einzige nordafrikanische Staat, in dem dies der Fall ist.

Die Angriffe auf die Rechte der Frauen in Tunesien könnten Vorboten größerer Bedrohungen für Frauen in der gesamten Region sein.

Sara Medini

In Zeiten, in denen die internationale Aufmerksamkeit auf die weltweite Inflation, den Krieg zwischen Russland und der Ukraine und die zunehmende Instabilität gerichtet ist, nehmen nur wenige die Angriffe auf die Rechte der Frauen in Tunesien zur Kenntnis – doch könnten sie Vorboten größerer Bedrohungen für die Rechte der Frauen in der gesamten Region sein.

Saieds konservative Ansichten sind seit seiner Wahl 2019 offensichtlich. Die Ernennung der ersten weiblichen Premierministerin und mehrerer Frauen in die Regierung im Jahr 2021 war reine Show.

Die internationale Gemeinschaft muss den Empfehlungen namhafter Akteure der Zivilgesellschaft an das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte dringend Beachtung schenken. Die lokalen Stimmen und Organisationen, die bereits vergebens Alarm geschlagen haben, verdienen mehr Gehör und Unterstützung.

Die Entwicklung in Tunesien ist ein warnendes Beispiel dafür, dass ein politisches System ohne solide Schutzmechanismen wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen kann. Es zeigt, wie schnell Errungenschaften zunichte gemacht werden können, wenn sich die Bürger nicht gemeinsam gegen den Autoritarismus wehren.

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