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Meinung: Bannmeile für quark-weiße Knöchel

Pascale Hugues, Le Point

Immer wenn die Temperaturen über 25 Grad klettern, verwandelt sich Berlin in ein riesiges englisches Internat. Vorbei ist die Zeit der graumäusigen Anzüge und der dazu passenden Laune. Der Berliner tauscht seine Stoffhose und sein tailliertes Jackett gegen ein kleines, freches Paar Shorts ein, das knapp über dem Knie aufhört und mit Socken und Sandalen kombiniert wird. Mit stolz über den Gürtel gewölbten Bäuchen flanieren sie dann die Straßen entlang, die kleinen Beamten und Büroangestellten mit ihren Aktentaschen, ihrem beschwingtem Schritt und einem träumerischen Lächeln um die Mundwinkel.

Es birgt keinerlei Risiko, der Kleiderordnung mit kurzen Hosen eine Nase zu drehen, denn der hauptstädtische BüroKodex toleriert diese gewagte Nachlässigkeit. Seit 14 Jahren zerbricht sich unser armes Berlin den Kopf darüber, wie es endlich eine wahre Metropole werden kann, so elegant wie Paris, so mondän wie Rom, so trendy wie New York und so weltoffen wie London – und jeden Sommer verfällt es aufs Neue in ungehobelte Provinzmanieren. Die Busse, die Bürgersteige, die Büros, die Läden – die ganze Stadt wird von Shorts-Trägern überrannt, die aussehen wie kleine Jungs, die vor ihrer Zeit ergraut sind. Seltsame, alterslose Wesen, irgendwo zwischen Michel aus Lönneberga, Sängerknabe und englischem Internatsschüler.

Die Hitze hat in Berlin die gleiche kathartische Wirkung wie im Rheinland der Karneval. Die Schübe des Thermometers legitimieren jeglichen Temperamentsausbruch, jegliche Grenzüberschreitung, jeglichen Rückschritt. Hingucken, es ist Hitzefrei! Wenn die Temperaturen erst mal wieder fallen, tun alle so, als sei nichts geschehen: Niemand erinnert sich mehr an die Stil-Exzesse seines Nachbarn. Morgens sehe ich sie über den Bürgersteig spazieren, die Kerle mit den kurzen Hosen, und frage mich, worin eigentlich das uneingestandene Vergnügen des Shorts-Tragens besteht. Verlängern kurze Hosen das Feriengefühl? Erinnern sie an Strand und Wanderwege und lassen ihre Träger die Bedrückung des Büros vergessen? Oder rufen sie Kindheitserinnerungen hervor? Erwecken sie bitter-süße Reminiszenzen an blutverschmierte Knie? Vielleicht verleihen Shorts aber auch ein Gefühl brutaler Männlichkeit, und ihre Träger fühlen sich insgeheim wie jene Entdecker im Kolonialherren-Outfit, die auf den Zigarettenwerbeplakaten neben Lagerfeuern im dichten Urwald kauern. Oder hoffen die Shorts-Träger, die den ganzen Juli über gebannt vor dem Fernseher gehockt haben, in die Haut ihrer Helden der Tour de France zu schlüpfen? Träumen sie von anmutigen, rasierten Waden, die auf gut geölten Pedalen über den Galibier-Pass rasen?

Wenn ich das traurige Schauspiel der quark-weißen Knöchel beobachte, die bläulichen Muster der Krampfadern und die schlaffen Muskeln der Achilles-Fersen, muss ich immer daran denken, wie in den 80er Jahren der Bürgermeister von Saint Tropez in den Straßen seiner Stadt das Tragen von Bikinis und Badeanzügen verbot. Der Berliner Senat täte gut daran, ehrbaren Familienvätern, die das Stadium der Pubertät lange hinter sich gelassen haben, das Tragen von Shorts zu untersagen. Berlin braucht eine Bein-Bannmeile!

Gut, dass in unserer Stadt keine so sadistischen Regeln gelten wie in englischen Internaten, wo kleine Jungs auch im Winter ihre Shorts anbehalten müssen, die Beine blaurot verfärbt von der Kälte, die juckenden Wollsocken bis zu den Knien hochgezogen. Nein, nein, unsere Berliner haben es nicht nötig, ihre Männlichkeit derart unter Beweis zu stellen: Kaum kündigt die erste frische Brise das Nahen des Herbstes an, schlüpfen sie artig wieder in lange Hosen, schwarze Socken und Mokassins. Der Wind der Tollerei ist vorübergezogen. Berlin zieht sich wieder an.

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