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Meinung: Betrieb Schule

Bildung ist kein Produkt. Sie braucht Zeit und Zuwendung. Die Reformen der letzten Jahre wirken dem entgegen

Humboldts Bildung, das war einmal: Einst begegneten junge Menschen dem überlieferten Wissen, sie setzten sich mit ihm auseinander; das forderte ihre geistigen und seelischen Kräfte, ihre Persönlichkeit entwickelte sich; sie wuchsen heran zu Erwachsenen, denen die Oberfläche der Dinge nicht genügt, sie suchten Zusammenhänge, Strukturen, Ursachen – rerum cognoscere causas. Wir Lehrer konnten erwarten, dass sie zu Weltbürgern wurden, die reflektiert und verantwortungsbewusst handeln. Vorbei und abgeschafft! Humboldts Bildung zählt nicht mehr, heute zählen Pisa-Punkte.

Nicht ohne Anlass. Rechnen und Lesen vieler Fünfzehnjähriger sind nach Pisa-Kriterien mangelhaft und so abhängig von der sozialen Herkunft wie im 19. Jahrhundert. Dieser schlimme Teilbefund ist zu einem Versagen aller deutschen Schulen aufgeschäumt worden. Sie sollen „besser“ werden, alle, auch die Gymnasien! Aber wie?

Man müsste genau die Gründe des Desasters kennen. Doch Pisa hat es nur gemessen und verrät sie nicht. Ein Thermometer kennt weder Diagnose noch Therapie. Diese Wissenslücke nutzen Ideologen. Glauben die einen, schuld sei das gegliederte Schulsystem, Heilung bringe erst die Einheitsschule, wissen die anderen: Frontalunterricht und „fragend-entwickelndes Unterrichtsgespräch“ haben alles verdorben; Gruppenarbeit und entdeckendes Lernen mit Powerpoint-Präsentation sind das Mittel der Wahl. Oder, ganz im Gegenteil: Die drucklose Kuschelmentalität der schlaffen Achtundsechziger-Lehrerschaft hat Ordnung, Fleiß und Leistung entwertet – her mit bayerischen Werten, her mit koreanischer Härte!

In diesem Glaubensstreit werden Ursachen verdrängt, die außerhalb der schulischen Einwirkung liegen: Gleichgültigkeit von Eltern, Sprach- und Schriftlosigkeit, Erziehung durch die Glotze, Bilderflut und Spaßgesellschaft, Arbeitslosigkeit und vielfach gescheiterte Integration. Weil daran wohl wenig zu ändern ist, halten Presse, Wissenschaft und Politik sich an die Schule. Sie soll und sie will ja auch diese Fehlentwicklungen ausgleichen. Dafür ist sie aber schlecht gerüstet. Lehrer, Hausmeister, Sekretärin: Das ist ihr Arsenal.

Dass weitaus mehr zu einer gelingenden Schule gehört, will man nicht glauben; denn im reichen Deutschland ist die öffentliche Hand arm. Die Sarrazine dieser Republik wollen die Zahl der Lehrer nicht vermehren, nur wenige Sozialarbeiter, keine Schulpsychologen und Krankenschwestern einstellen, keine Bibliothekare, keine technischen Helfer, sie wollen keine kostenlose Schulspeisung finanzieren – überflüssigen Luxus, den sich besser betuchte Pisa-Sieger gönnen mögen. Deutschlands Schule soll finnische Resultate ohne finnische Ressourcen erbringen. Wie das gelingen kann? Unternehmensberater lieferten den entscheidenden Tipp: Ökonomisiert die Schule, leitet sie wie ein Unternehmen – das heißt: Intensiviert und professionalisiert die Arbeit der Lehrer, macht sie effizienter! Die Bildungskosten bleiben gleich, das Produkt Bildung wird besser.

Gesagt, getan. Zur neuen Schule gehören nunmehr: Corporate Identity, Output-Orientierung, Normierung, Controlling, Qualitätsmanagement. Ein Leitbild muss her und ein Schulprogramm. Eine Steuerungsgruppe formuliert nach Bestandsaufnahme und Stärken- Schwächen-Analyse Entwicklungsziele. Zielvereinbarungen binden Schulaufsicht, Schulleitung und Lehrer in ein Geflecht von Anforderungen, die sie gemeinsam unter Anwendung infantilisierender Moderationsmethoden entwickelt haben. Wer nicht mitzieht, der wird in einem von gegenseitiger Wertschätzung getragenen Mitarbeitergespräch vom rechten Weg überzeugt.

So werden Lehrer endlich professionell. Der Schulleiter, einst administrativ dilettierender Primus inter Pares, übernimmt Ergebnisverantwortung; er wird Vorgesetzter und regiert top down: Manager, nicht Pädagoge. Wo einst ein fahles Humboldt-Bild die Lehrerzimmer zierte, strahlen quietschbunte Zahlen und Figuren: Säulendiagramme illustrieren die datengestützte Bewertung der Qualität einer Schule.

Diese neue Schule ist outputorientiert. Man blickt auf das Produkt. Das sind die Fertigkeiten und Kenntnisse der Schüler, ihre „Kompetenzen“. Sie werden mit Tests gemessen. Eine dem Pisa-Projekt dankbar verbundene internationale Testindustrie und nationale Institute haben sich dieser Aufgabe angenommen. Sie definieren, was zum Beispiel im mittleren Schulabschluss erreicht sein soll, und sie liefern die zur Messung erforderlichen Aufgaben.

Das ist nicht ungefährlich – wer durch Tests Qualitätssteigerung will, riskiert Qualitätssenkung. Denn: Wer messen will, der muss vorab das zu Erreichende eingrenzen, das Unwägbare ausschließen, den Reichtum des Möglichen beschneiden. Themen, ganze Fächer, die von Natur aus mehrdeutig sind oder in offene Fragen münden, stören. Für die USA – dort gibt es Output-Standards seit 1983 – ist das längst nachgewiesen: Einengung des Curriculums, stupides „Learning to the test“ sind die Folgen; die angestrebte Qualitätsverbesserung wurde weit verfehlt. In anderen outputorientierten Ländern schmilzt der Fächerkanon, es bleiben überwiegend Fächer, die einen testfähigen Output produzieren können, und innerhalb aller Fächer dominiert deren testbarer Bereich. Ob dies auch in Deutschland droht, bleibt abzuwarten, unsere Testentwickler werden solche Fehlentwicklung vermeiden wollen. Aber enggeführtes „Learning to the test“ ist bereits heute an Berliner Schulen offensichtlich – spätestens dann, wenn unsere Schüler auf den mittleren Schulabschluss vorbereitet werden.

Output-Orientierung und Kompetenzenmessung sind das Ende der Humboldt’schen Tradition. Bisher war Bildung an dem jungen Menschen und der Entfaltung seiner Persönlichkeit orientiert. Daraus wurden Ziele wie Toleranz oder Konfliktfähigkeit, wurden Didaktik und Methodik abgeleitet und geeignete Inhalte ausgewählt. Dagegen blickt die outputorientierte Schule nicht auf den in seiner Individualität heranwachsenden Menschen und seinen Bildungsgang, sondern auf die Kompatibilität seiner am Ende erworbenen Kompetenzen mit den Erfordernissen der Berufswelt. Im Grunde haben wir es mit einem Rollback jenes Utilitarismus der Philantropen zu tun, gegen den sich vor zweihundert Jahren Humboldts Bildung zum Segen des Wissenschaftsstandortes Deutschland behauptet hatte.

Das hat Folgen für die Gegenstände, denen der Schüler begegnet. In der neuen Schule interessieren sie nicht mehr wegen der ihnen innewohnenden bildenden Problematik, sondern im Hinblick auf ihre Verwertbarkeit zur Einübung der Kompetenzen. Sinn wird ersetzt durch Funktion. Wer Englisch lernt, kann die geforderten Kompetenzen auch mit der Besprechung aktueller Wetterkatastrophen erwerben. Hamlet stört. Denn, so wird argumentiert, man bilde keine Geisteswissenschaftler heran, sondern Kandidaten für den internationalen Arbeitsmarkt. Dass eine Auseinandersetzung mit Hamlets „To be or not to be“ mehr zur Lebensbewältigung beitragen und dass dieses Drama welthaltiger sein könnte als Wetterberichte und Informationen über die Arbeitswelt, interessiert outputorientierte Schulplaner nicht.

Humboldts Bildung dagegen blickt auf die Inhalte. Mit ihnen setzten sich die Schüler auseinander und haben sich in dieser Auseinandersetzung entwickelt – gewiss doch: der eine mehr, der andere weniger, von Fach zu Fach verschieden, je nach Entflammbarkeit seines Interesses, je nach Begabung, je nach Engagement und Fähigkeit des Lehrers. Eine Bildung, die Seitenwege zulässt, Überraschendes, Neues hervorlockt, kann kaum nach Testkriterien beurteilt werden, weil ihre Erfolge nur allgemein, aber nicht speziell antizipierbar sind. Jeder outputorientierte Lehrgang ist erfolgreicher – in den engen Grenzen und nach dem Maßstab der Pisa-Welt. Aber die alte Bildung bewirkt in den Schülern eine größere Breite der Kenntnisse und Ideen sowie die Fähigkeit, sich neuen Fragen zu öffnen. Nur so ist zu erklären, dass unsere gymnasialen Pisa-„Versager“, wenn sie das elfte Schuljahr im Ausland zubringen, dort oft zu den Besten gehören.

Die alte Schule akzeptierte Bildung in einer Spannung von Planung und Individualität. Die neue ist blind für das Subjekt; sie überlässt die Persönlichkeitsbildung dem Zufall. Dies ist fahrlässig in einer Zeit, in der wir Verrohung, Gewaltbereitschaft, Konsumdenken, Verfallenheit der jungen Leute an die suggestiven Bildwelten der Unterhaltungsindustrie beklagen. Die neue Schule antwortet mit einem Konzept der leeren Kompetenz und lässt die Jugend allein.

Zur outputorientierten Schule gehört auch die Vorstellung, dass es eine diesem Zweck optimal dienende Lehrmethode gibt. Heutiger Favorit im Reigen wechselnder Methoden-Moden ist das „entdeckende Lernen“. Der Lehrer belehrt nicht, er hält sich zurück, wirkt als Moderator, die jungen Leute arbeiten mit größtmöglicher Selbstständigkeit (im Team, selbstverständlich); Pflicht ist die Präsentation der Ergebnisse per Plakat oder mit Powerpoint.

Daran gemessen gibt es Lehrer, die machen einfach alles falsch, sie dozieren Stunde um Stunde, dass es einen graust – dennoch: Die Schüler hängen an ihren Lippen, und nachweisbar ist: Sie lernen. Und umgekehrt: Es gibt Lehrer, die machen im Geist der neuen Schule alles richtig. Stühleschurrend finden sich ihre Schüler in kompliziert konstruierten Expertengruppen, bilden Außen- und Innenkreise, malen ein Plakat nach dem anderen, es powerpointet, dass die Augen tränen, gleichwohl lernen sie manchmal nichts.

Anscheinend ist es so, dass Lehre nicht nur einer Methode, sondern vor allem des Menschen bedarf, der das Wissen mit Ernst verkörpert und einfordert. Kein Kind wird von sich aus das Sternbild des Großen Bären am Himmel entdecken können oder überhaupt suchen wollen. Erst wenn der geliebte Erwachsene ihm die Sternfiguren zeigt, dann nimmt es sie wahr und vergisst sie nie wieder.

Zum Glück für Humboldts Bildung geht die Theorie der neuen Schule so sehr an der pädagogischen Wirklichkeit vorbei, dass sie die Lehrer nur zum Teil erreicht. Dazu trägt bei, dass einige Kompetenzdefinitionen und Rahmenlehrpläne in einem wolkigen Neusprech formuliert wurden, dessen gedanklicher Kern sich auch dem Gutwilligen nicht erschließt. Damit erreicht man die arbeitende Basis kaum. Die wundert sich nur, dass ihre bisherige Arbeit schlicht als unprofessionell disqualifiziert wird. Auf den totalen Heilsanspruch des Neuen reagiert der Vernunftbegabte mit Skepsis. So wird das Beharrungsvermögen einer ihren Beruf liebenden Lehrerschaft, der es um Bildung und Erziehung geht, Humboldts Bildung über die heutige Mode hinwegretten.

Lehre, Erziehung, Bildung resultieren nicht aus der ökonomischen Effizienz, sondern aus der Redundanz: Das ist Zeit, das ist Wiederholung, das ist liebevolle Zuwendung. Für sie braucht der Lehrer psychische Kraft. Das ist eine andere Professionalität als die von der neuen Schule propagierte. Manchmal wurde die dafür erforderliche Freiheit von den Lehrern missbraucht. Aber sie ist notwendig. „Schola“ bedeutet „Muße“. Die ist nicht berechenbar. Wahre Bildung ist weder Produkt noch Ware; und Schule ist kein Betrieb.

Die Reformen der letzten Jahre haben uns genötigt, unseren Unterricht infrage zu stellen, schärfer die Resultate unserer Arbeit in den Blick zu nehmen. Der Nutzen lag in der Verstörung, in der Unterbrechung des Alltagstrotts; es gab und gibt die große Bereitschaft, Neues zu versuchen – aber gewiss nicht am Output orientiert, sondern an unseren Schülerinnen und Schülern, an ihrer Bildung.

Hinrich Lühmann

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