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Meinung: Boxen beim Dinner

Eiszeit auf dem EU-Gipfel: Blair und Chirac geht es weniger um den Irak als um den zukünftigen Charakter Europas

Zimperlichere Naturen wären zu Hause geblieben. Zu tun hätte es für Tony Blair genug gegeben. Er hat 42 000 Soldaten im Felde stehen, führt Krieg gegen die Meinung der halben Welt und muss sich um demonstrierende Mitbürger und seine aufgebrachte Partei kümmern. Zudem hatte der französische Präsident Jacques Chirac ja angekündigt, er werde „die Boxhandschuhe mitbringen“. Und er hat sie dann beim Gipfel ja auch tatsächlich angezogen. Nach dem Gipfel war nicht einmal klar, ob sich die Kontrahenten Blair und Chirac überhaupt die Hand gegeben hatten. Aber darauf kam es dem britischen Premier dann auch nicht mehr an. Den Verhandlungstisch in Brüssel Jacques Chirac überlassen? Nimmermehr, schon gar nicht jetzt, sagte man sich in London.

In Europa hat ein Entscheidungskampf begonnen. Was sich zwischen Frankreich und Großbritannien in diesen Wochen abspielte, geht weit zurück. Weiter als der Irak. Weiter auch als der Zusammenstoß von Blair und Chirac beim Gipfel im Oktober, als es um den Agrarmarkt ging. Chirac und Blair, das reiht sich in die lange Serie der Kämpfe ein, in denen Politiker aus dem Kerneuropa den Briten und ihrer Sicht der Welt die Stirn boten: Kohl und Thatcher (die jahrelang, als die Briten federführend den europäischen Binnenmarkt schufen, eine gute Europäerin war), Macmillan und de Gaulle (der den Briten den Beitritt in die EWG 1961 aus Misstrauen gegen ihre transatlantischen Bindungen verbot).

Es ging bei den Winkelzügen der UN-Diplomatie ja nicht nur um den Zeitpunkt, an dem aus einer Drohung ein blutiger Krieg werden würde – in einer Woche, drei Monaten oder nie. Es ging nicht einmal darum, die USA zu zwingen, ihren Krieg im Rahmen der UN zu führen (was Tony Blair wollte), oder die UN dazu zu bringen, den Krieg der USA abzusegnen (was George W. Bush wollte), oder die USA in ihre Schranken zu verweisen – was Jacques Chirac offenbar wollte.

Chirac positionierte sich in den letzten Monaten plötzlich als Vollstrecker eines angesichts der Inkompetenz von Bush weltweit wachsenden Anti-Amerikanismus. Doch er wusste wohl, dass seine Diplomatie die Amerikaner nur zurück in den Unilateralismus treiben würde. Und gerade deshalb ist Tony Blair nicht umgefallen. Das hat er ja in seiner großen Parlamentsrede beschrieben: Ein Rückzug Großbritanniens hätte dem amerikanischen Unilateralismus seinen letzten, entscheidenden Impuls gegeben.

Chirac kam es in Wirklichkeit auf etwas anderes an, als er nach all der Harmonie beim Zustandekommen der Resolution 1441 „irgendwann Anfang dieses Jahres die strategische Entscheidung traf, 1441 nicht zu implementieren“. Das ist die Interpretation der Briten, vor dem Brüsseler Gipfel vom britischen Außenminister Jack Straw in aller Klarheit vorgetragen: Chirac habe Tony Blair eine Falle gestellt. Er wollte ihn zwingen, sich zu entscheiden. Die Briten sollten zwischen Europa und den USA wählen. So wie es kontinentale Politiker von den Briten ja immer wieder verlangen. Entscheidet euch zwischen uns in Europa und euren Vettern jenseits des Atlantiks.

Eine Sache ist, dass diese Wahl für die Briten vielleicht eine historische, kulturelle und politische Unmöglichkeit ist. Eine andere, dass die Wahl uns alle in Europa angeht. Was Chirac in den letzten sechs Monaten forcierte – im engen Zusammengehen mit dem politisch geschwächten Deutschland – ist die Entscheidung zwischen zwei Modellen von Europa. Das gaullistische, bei dem Europa, von Frankreich geführt, das geopolitische Gegengewicht gegen die USA bildet – und gegen das amerikanische Kultur- und Wirtschaftsmodell. Tony Blair hat eine andere Vorstellung: Nicht nur das offene, marktzugewandte Europa der Angelsachsen, sondern Europa als Partner der Amerikaner, „nicht ihr Diener, aber auch nicht ihr Rivale“. In dieser Vision ist Europa nicht ein gaullistischer Asterix, der die römischen Imperatoren bekämpft. Stattdessen soll sich der Kontinent gemeinsam mit den USA in einem starken, transatlantischen Bündnis der vielen alten und neuen Gefahren der Welt annehmen – Tyrannei und Terrorismus, die Krisen im Nahen Osten, Umweltprobleme, Hunger und Armut in der Welt.

Beim Blick über den Atlantik auf Bushs Amerika mag das wie eine fast quichotteske Sicht auf die Welt erscheinen. Doch Blair ist hier der Realist. Er weiß, dass diese Aufgaben, vom Palästinakonflikt bis zur Umweltproblematik, nicht ohne und schon gar nicht gegen die Amerikaner zu lösen sind. Ganz falsch wäre es, wenn Deutschland und Frankreich die britische Haltung als uneuropäisch ansehen würden. Auch die Briten wissen, dass ihre Vision nur mit einem geeinten, und starken Europa Wirklichkeit werden kann. Deshalb ist Blair zum frostigen Dinner nach Brüssel geflogen.

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